Die Himmelsleiter (German Edition)
in die die Reise ging. Alles schien möglich. Neben Physik und Mathematik gab es unzählige andere Bereiche, an denen man sich versuchen wollte. Das Wetter war ein Thema. War nicht schließlich Lorenz, eines ihrer Vorbilder, Meteorologe? Astronomie, Biologie, Medizin … Es war, als wartete die ganze Wissenschaft nur darauf, durch die Chaosforschung zum Leben erweckt zu werden.
Ein bezeichnendes Licht auf die fast wahnhafte Euphorie der Gruppe wirft ein Zwischenspiel, das sich Mitte der siebziger Jahre zugetragen hat. Zwei Mathematiker machten den ernstgemeinten Vorschlag, Kongre ssreisen durch das Roulettespiel zu finanzieren, das sie zu entschlüsseln hofften. Nach kurzer Diskussion erhielten sie den offiziellen Auftrag, ins Spielcasino nach Baden-Baden zu fahren, um die notwendigen Zahlenreihen zu ermitteln. Es gab wenig Zweifler. Und als die beiden später ihre Überlegungen vortrugen, opferte man bereitwillig einen Teil des bescheidenen Gruppenetats, um ihnen ein paar Abende am Roulettetisch zu ermöglichen. Unnötig zu erwähnen, dass sie nichts gewannen und in kürzester Zeit ihr Startkapital restlos verspielt hatten. Dennoch galt der Versuch lange Zeit nicht als gescheitert. Die verfügbare Rechenleistung, so hieß es, habe bessere Ergebnisse verhindert.
War die Gruppe zun ächst Diskussionsforum, in das jeder auch neue, manchmal bizarre, manchmal nur unausgegorene Ideen einbringen konnte, kam bald eine zweite Aufgabe hinzu. Das Hauptproblem der ersten Jahre lag weniger darin, wissenschaftliche Erfolge zu erzielen, als vielmehr diese Erkenntnisse der scientific community , der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, nahezubringen, sie also in Zeitschriftenartikeln zu veröffentlichen und auf Kongressen vortragen zu dürfen. Zu abwegig erschien der Ansatz der Gruppe. Ihre Forschungen bewegten sich im Niemandsland zwischen den etablierten Fächern. Im traditionellen Raster wissenschaftlichen Denkens gab es für sie keinen Platz. Stets hätte man weiter ausholen müssen, um den Hintergrund der Theorie zu verdeutlichen. So wurden Kompromisse geschlossen. Man passte sich sprachlich dem herrschenden Duktus an, drapierte wirklich Neues in altbewährter Manier, schickte manch ein trojanisches Pferd in die Schlacht und war schon zufrieden, hier und da einen Samen des neuen Gedankenguts unauffällig ausstreuen zu dürfen.
Dennoch hagelte es zun ächst Ablehnungen. Wurden diese überhaupt begründet, dann sprach aus ihnen ein so grundsätzliches Unverständnis, das uns immer wieder neu vor Augen führte, wie weit wir uns von der vormals gemeinsamen Basis entfernt hatten. Etwas anderes kam hinzu. Wir hatten damit gerechnet, lächerlich gemacht zu werden. Auf die offene Feindseligkeit, die uns entgegenschlug, waren wir schlecht vorbereitet. Zu ignorant und kleinlich erschienen die Polemiken, mit denen wir bedacht wurden, die Seitenhiebe, die wütenden Angriffe der Gutachter und Veranstalter. Für die einen waren diese Reaktionen der augenfällige Beweis, dass wir auf dem richtigen Weg waren, für die anderen, dass wir es niemals schaffen konnten.
Sp äter erfuhr ich, dass es Schmal gewesen war, der Altomonte auf die Idee mit den Pendeln gebracht hatte. Sie kannten sich schon eine Weile, und der Mathematiker war einer der wenigen, denen er einen gewissen Einfluss auf sein Denken gestattete.
Schon damals, zu Beginn seines Studiums, betrachtete Altomonte die Physik mit anderen Augen als seine Kommilitonen. Er interessierte sich nicht so sehr f ür die großen Theorien, die Standardexperimente und die bekannten Effekte. Hellhörig wurde er erst, wenn auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen wurde. Es schien, als sammelte er seltsame Befunde, unerwartete Ergebnisse und gescheiterte Replikationen, Ausnahmen, Sonderfälle, Abweichungen, Unstimmigkeiten aller Art, als fahndete er nach Theorien und Modellen, die nirgendwohin passten, nach jeder Anomalie, die in Vergessenheit geraten oder mit fadenscheinigen Begründungen aus dem anerkannten Fundus wissenschaftlicher Erkenntnis getilgt worden war. Er glich einem Ermittler, der noch keinen Fall hat, aber felsenfest davon überzeugt ist, dass etwas faul ist. Als müsse er nur genau hinschauen, akribisch verdächtige Hinweise aufspüren und katalogisieren, um daraus irgendwann, das, was er suchte, wie ein Puzzle zusammensetzen zu können, gerade so streifte er durch die verschiedenen Teilgebiete der Physik. Er trieb sich in den antiquarischen Abteilungen der Institute herum, verbrachte
Weitere Kostenlose Bücher