Die Himmelsmalerin
Schwarzlot ausmalen würde, denn etwas anderes wäre kaum mehr möglich.
»Ihr wartet auch auf euren Meister«, stellte Lena fest. Doch die Bilder schwiegen.
Ihr eigener Engel lehnte fix und fertig an der Wand. Für einen ersten Versuch war das Glasfenster gar nicht so schlecht geworden. Noch heute zuckte sie zusammen, wenn sie an das hohe sirrende Geräusch dachte, mit dem das heiße Eisen in das Glas geschnitten hatte. Zum Glück war es fast immer da gebrochen, wo es sollte. Glasschneiden, das wusste sie jetzt, war nicht einfach. Wer ein Glas verschnitt, hatte Geld- und Zeitverluste und musste, wenn es dumm kam, von vorne anfangen. Doch nachdem die Anfangsarbeiten erledigt waren, hatte die Glasmalerei selbst Lena vor keine allzu großen Schwierigkeiten gestellt. Das Schwarzlot war ihr gewissermaßen aus den Fingern geflossen, so froh war sie, überhaupt mal wieder etwas gestalten zu können. Und jetzt stand ihr kleiner Engel in einer leicht gedrehten Position auf der Bildfläche, seine Flügel umgaben ihn voller Eleganz, und seine Augen schauten tatendurstig in die Welt, fast so, als sei er lebendig. Kein Zweifel, so war es richtig: ein Bote Gottes, der auf Erden viel zu tun hatte. Hatte er ihr eben zugezwinkert? Sie brannte darauf, ihn Lionel zu zeigen.
Es war Zeit, dass sie ihrem Vater das Essen brachte. Über dem Hof lag ein klarer heller Spätsommertag, einer, an dem die Farben intensiver leuchteten und der Geruch des Herbstes in der Luft lag. Ein Tag wie das Chorfenster der Franziskanerkirche.
In der Küche standen Martha und Sanna am Tisch und formten Wecken mit Rosinen und Honig. Sanna runzelte hochkonzentriert die Stirn und drehte einen Ballen in den bemehlten Händen. Auf dem Feuer köchelte eine Rindfleischsuppe vor sich hin, die den Raum mit Dunst erfüllte.
»Hmm, lecker«, Lena stibitzte einen Finger voll Teig.
»Das darfst du aber nicht!«, sagte die kleine Sanna und drohte ihr mit dem Finger. Ein schwarzrotes Katzenjunges sprang auf den Tisch und haschte nach ihrer Hand.
»Schhh!«, machte Martha, und das Katzenkind hüpfte runter. »Die werden auch immer frecher. Über kurz oder lang müssen sie raus.«
Lena lachte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie Martha in den Arm nahm. »Was gibt’s denn heut zum Vesper?«
»Die Suppe mit Fleisch und Teigeinlagen«, sagte diese.
Lena stibitzte sich lieber einen der fertigen Krapfen, die sicher für den morgigen Sonntag bestimmt waren, und steckte ihn in den Mund.
Sanna lebte jetzt schon fast drei Wochen bei ihnen. Zuerst hatte sie in der Küche vor dem Feuer geschlafen. Aber weil sie jede Nacht schreiend vom immer gleichen Albtraum aufgewacht und durchs Haus geirrt war, hatte sie Martha in ihre Kammer geholt. Seitdem ging es besser, denn unter Marthas Fittichen fühlte sich Sanna sichtlich wohl und blühte auf. Lena, die sich daran erinnerte, wie gut ihr selbst Marthas Gegenwart nach dem Tod ihrer Mutter getan hatte, freute sich für die Kleine.
»Schau, Lena!« Martha deutete mit dem Kinn in Richtung des Regals, in dem sie das Tongeschirr aufbewahrte. »Ich hab dir das Tablett für den Vater schon gerichtet. Du musst nur noch etwas Suppe in den Teller schöpfen.«
An ihrer Nase klebte ein Klecks Teig, ein Anblick, der Sanna laut auflachen ließ. Martha kniff sie in die mage- re Hüfte, bis sie quietschte. »Was du immer zu lachen hast!«
»Aber Lena, achte drauf, dass der Vater auch wirklich etwas isst.«
Lena nickte und füllte den Suppenteller mit der heißen Rindfleischsuppe, bis er beinahe überlief. Auf dem Tablett lag ein großer Wecken aus Weizenmehl, dick mit Butter und einer fingerdicken Scheibe Schinken belegt, und einige süße, frisch gebackene Krapfen. Wenn der Vater alles aufaß, konnte er sich danach aus dem Bett rollen. Sie stellte einen Krug mit verdünntem Wein dazu und stieg die Treppe hinauf zu Meister Heinrichs Kammer. Dort öffnete sie die Tür mit dem Ellenbogen und trat ein. Heinrich saß hoch aufgerichtet in dem breiten Bett mit dem geschnitzten Kopfteil, in dem ihre Mutter nach der Geburt ihres Sohnes gestorben war. Durch das kleine Fenster drang mildes Licht und frische, fast schon zu kühle Luft. Lena nahm sich vor, ein Pergament davor zu spannen, was sie sonst nie vor November tat. Das Gesicht ihres Vaters war grau, irgendwie schienen auch seine Wangen schmaler als noch vor zwei Wochen zu sein. Sie würde bleiben, bis er zumindest fast alles aufgegessen hatte.
»Mein Liebling«, sagte er
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