Die Himmelsmalerin
den letzten zwei Wochen keinen einzigen Gedanken verschwendet. Da war Lionel, abwesend, aber ständig in ihren Gedanken, der kranke Vater und die Verantwortung für die Werkstatt. Und wieder Lionel. Ihr schwindelte von dem Durcheinander in ihrem Kopf.
»Ich dachte«, sagte sie schließlich, »dass die Sache sich mit Valentins Wasserprobe erledigt hätte.«
Der Franziskaner richtete seine grauen Augen auf sie. »Nicht ganz. Man hat den Schuldigen noch immer nicht gefunden. Solange das so ist, bleibt Valentin bei uns im Klosterasyl, wo jede Minute der Hardenberger auftauchen und seine Fragen stellen kann. Und wenn der König kommt, wird ihm der Prozess gemacht.«
»Was?« Lenas Augen wurden groß. Mir reicht es, dachte sie. Das alles wird mir zu viel. Sie sah sich nach einem Hocker um, auf den sie sich fallen lassen konnte, aber es gab keinen, nicht einmal für Bruder Thomas.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, zögerlich, weil der Besucher, der da Einlass begehrte, kaum groß genug war, um an die Klinke zu reichen.
»Ohh«, machte Lena, als sie ihn erkannte. In der Tür stand der kleine Franz, eine Wachstafel und einen Griffel in der Hand, und beachtete Lena nicht weiter. Seine Wangen glühten vor Eifer.
»Bruder Thomas«, sagte er leiser, als Lena ihn je gehört hatte. »Ist das gut so?«
»Komm doch rein, Junge!«, sagte der Franziskaner freundlich und betrachtete seine Schreibversuche. »Das ›G‹ musst du ein wenig runder machen. Schau her, so. Aber sonst ist es sehr schön. Und jetzt gehst du an das ›H‹.«
»Hallo Lena«, sagte Franz verspätet und stürmte zur offenen Tür hinaus.
»Was macht denn der hier?«, fragte Lena völlig perplex.
Bruder Thomas sah aus, als hätte sie ihn bei irgendetwas erwischt. Sie wusste nur nicht, wobei. »Seine Mutter meinte, fürs Lesenlernen bei den Dominikanern sei er noch zu jung. Aber er ist ein so wissbegieriges Bürschchen. Also gebe ich ihm Privatstunden.«
Seltsam, dachte Lena.
»Ab dem Frühjahr geht er dann zu diesem jungen Schulmeister … Wie heißt er doch gleich? Er soll sehr begabt sein.«
»Kilian Kirchhof«, half sie ihm auf die Sprünge.
»Und was ist dann Euer Begehr, wenn Ihr die Mördersuche gerade ruhen lasst?« Da war ein Hauch von Spott in seiner Stimme, der Lena noch mehr verunsicherte.
»Ich …«, begann sie. »Mein Vater. Er ist krank.«
»Tatsächlich?« Der Franziskaner schaute sie ermutigend an. »Traut Euch ruhig, mich zu fragen. Ihr habt sicher inzwischen festgestellt, dass ich nur zu besonderen Gelegenheiten beiße.«
»Ja. Aber Ihr seid so beängstigend gelehrsam.« Lena biss sich auf die Zunge. Immer waren ihre Worte schneller als ihre Gedanken.
»Nun.« Der Pater lachte. »Ich weiß nicht, ob ich Euch da recht geben kann. Ich bin nicht William von Ockham, der den König theologisch rausgepaukt hat. Aber es stimmt. Ich widme mich meinen medizinischen Studien und versuche, die Lehre des Hippokrates mit der der heiligen Hildegard von Bingen in Einklang zu bringen. Ein studierter Physicus scheint die Leute einzuschüchtern. Die Säftelehre ist ihnen zu hoch, meine ich. Meist wählen sie den Bader oder die Heilerinnen. Und liegen damit vielleicht gar nicht mal so falsch. Aber was fehlt denn Eurem Vater?« Er klappte das Buch zu, auf dessen Einband Lena den Namen »Dioskurides« buchstabierte, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Doch sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, sondern schilderte dem Arzt die Symptome ihres Vaters, das plötzliche Herzrasen, die Enge und die Atemnot. Bruder Thomas zog seine dunklen Brauen zusammen.
»Das Herz ist es also«, sagte er. »Ich fürchte, dass ich da nur wenig tun kann. Aber ich werde mir Euren Vater gerne anschauen. Vielleicht lässt sich mit der richtigen Medizin und viel Ruhe etwas machen.«
»Heute Abend?«, flüsterte Lena.
Thomas lachte. »Immer ungestüm und mit dem Kopf durch die Wand. Gern, wenn Ihr es wünscht. Und jetzt«, fuhr er fort. »Besucht doch Euren Freund Valentin. Er ist in der Sakristei und arbeitet an einer Madonnenfigur.«
Ein Stich schlechten Gewissens machte ihr klar, dass Pater Thomas recht hatte. Sie hatte ihren Freund schnöde vernachlässigt.
Lena hörte das leise Klopfen, mit dem Valentin aus einem Block Kalksandstein eine Marienstatue herausholte, schon von weitem. Tock, tock, tock, erklang es in der friedlichen Stille des Kreuzgangs. Niemand begegnete ihr. Die Mönche waren beim Studium, manche vielleicht auch in der Stadt beim
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