Die Himmelsmalerin
kleinen Jungen mit den braunen Locken als Teil vom Inventar betrachteten.
Die Bibliothek war morgens sein Zuhause, die Straße, wo er als Teil von Valentins Kinderbande allerlei Streiche ausheckte, am Nachmittag. Das Patrizierhaus der Kirchhofs aber, zu deren Familie er durch die Herkunft seine Mutter gehörte, wurde ihm immer fremder. Seine schöne Mutter – wie sehr hätte er sich gewünscht, dass sie sich einmal für ihn interessieren möge. Doch als sie den Ulmer Kaufmann heiratete, der mit ihr eine neue Familie gründen wollte, war es ihr leichtgefallen, ihren kleinen Jungen, den Fehltritt ihrer Jugend, im Haus des Onkels zu lassen. Wissen war sowieso besser als ihre Liebe, als alle Liebe. Kilian lernte und lernte.
Und als er Latein besser beherrschte als sein Lehrer, hatte er sich eines Tages in die hinterste Ecke der Bibliothek begeben und dort im Sonnenlicht des kleinen Fensters, in dem tausend Staubkörnchen tanzten, einen von Spinnweben bedeckten Schatz entdeckt. Eine ganze Reihe brauner, ledergebundener Handschriften stand dort aufgereiht, festgeklemmt in der Regalreihe. Sie sahen aus, als ob niemand sie in den letzten hundert Jahren angefasst hätte. Grund genug für den kleinen Kilian, diese Kostbarkeiten auf der Stelle aus dem Regal zu zerren. Es ging schwer, sie standen eng an eng, aber dann hatte er das erste Buch in der Hand, und die anderen polterten auf den Boden. Die Patres schauten von ihren Schreibarbeiten hoch, mit müden, tränentriefenden Augen, dann konzentrierten sie sich wieder aufs Kopieren. Und Kilian hatte seinen Schatz tief befriedigt aufgesammelt und zu seinem Pult getragen. Doch dann kam die Enttäuschung. Noch heute erinnerte er sich, wie verzweifelt er gewesen war, als er die Schrift nicht lesen konnte. Erst war sein Daumen darüber gefahren, dann seine Augen, aber die Zeichen waren anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Bumms, die Tür war vor ihm ins Schloss gefallen.
»Das ist griechisch«, sagte da eine Stimme hinter ihm. Die sanfte und freundliche Stimme Prior Balduins, den Kilian bisher nur von weitem gesehen und vor dem er einen Heidenrespekt hatte. Fast hätte er sich vor Schreck an seiner Spucke verschluckt.
»Möchtest du es lernen?«
Und gemeinsam waren sie in eine Welt aufgebrochen, in der es beinahe noch mehr zu entdecken gab als bei den Römern. Da waren die Mathematiker, Thales, Euklid und Pythagoras, und auch die Welt des reinen Denkens, die Philosophie. Kilian hatte Platon und Aristoteles in ihren lateinischen Übersetzungen gelesen und wenig davon verstanden. Als er zehn Jahre alt war, las er sie im griechischen Original und begriff sie etwas besser. Er hatte dazu den besten Lehrer, den man sich vorstellen konnte. Prior Balduin liebte die Sprache und brachte sie ihm bei, Buchstabe für Buchstabe – mit der Hingabe eines Mannes, der sieht, dass sein Tun auf fruchtbaren Boden fällt. Kilian sog alles Wissen auf wie ein Schwamm, und Balduin wurde sein Freund und Mentor.
So war es keine Frage, dass er im Alter von 12 Jahren ins Kloster aufgenommen wurde. Sein Onkel, der Bürgermeister Kirchhof, hatte Gefallen an der Idee gefunden, einen gelehrten Dominikaner in der Familie zu haben, und gerne für seinen Eintritt bezahlt. In den Orden der Wissenden, sagte Balduin. Litteri nostri armi sunt, hatte der heilige Dominikus gesagt, und befohlen, dieses Wissen im Kampf gegen die katharische Ketzerei im Süden Frankreichs einzusetzen. Und das wollte Kilian tun, Wissen nutzen, um die Unwissenden und Verirrten zu Gott zu führen. Aber zuerst wollte er studieren, in Köln, Bologna und Paris, überall, wo der Orden ihn hinschickte, und alles Wissen erwerben, das auf Erden zu haben war.
Kilian beendete die Lateinstunde für diesen Tag. »Feierabend«, rief er und klatschte in die Hände. Erleichtert warfen die Jungen ihre Wachstafeln auf die Seite und stürmten vor die Tür, wo ein warmer Herbsttag auf sie wartete und die Freiheit der Straße. Nur der kleine, blonde Sebastian blieb zurück.
»Ist noch was?«, fragte Kilian den Sohn des Weinhändlers Geiger.
Anders als seine Kameraden, brachte Sebastian mehr als nur einen Funken Interesse auf. »Möchtet Ihr es Euch ansehen?«, fragte er.
»Was denn?«
»Was ich geschrieben hab.«
Kilian betrachtete die Wachstafel mit den sauber gemalten, fehlerfreien Sätzen.
»Das hast du gut gemacht, Basti!«, lobte er.
Er wusste, dass der Kleine auch einigermaßen übersetzen konnte und dass er sich manchmal in einen
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