Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
Piazzolla und sein Bandoneon weiter unterhielten.
»Bist - bist du mit deinem Moskau-Berlin-Artikel fertig geworden?« Olaf Wössner schaute das Fleisch auf seinem Teller an, ohne davon zu essen.
»Ich muss noch einmal mit dem Botschafter reden«, kaute Jenny Mayer gut gelaunt, »aber dann sollte ich alles haben.«
»Sehr gut. Sehr gut.«
Jenny Mayer legte Messer und Gabel aus der Hand und beugte sich über den schmalen Wohnzimmertisch. Sie war kurz davor, ihre Hand auf Olaf Wössners Hand zu legen. »Jetzt sag doch endlich, was los ist. Seit Tagen höre ich von dir, dass du mit mir über etwas Wichtiges sprechen musst, und dann druckst du immer nur herum. Ich finde, jetzt wo du mich zu dir nach Hause eingeladen hast, ist doch wirklich der richtige Zeitpunkt, um mir zu sagen, was los ist. Also. Spucks aus.«
Doktor Olaf Wössner faltete nervös an seiner Serviette herum.
»Geht es um die personalen Veränderungen im politischen Teil, die du letzten Montag angedeutet hast?«, fragte sie. Großer Bandoneon-Auftakt. »Um die neue Stelle in Moskau?«
Olaf Wössner legte die Serviette weg und schaute der Kollegin Mayer zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen. »Ich - ich habe in Konrads Videorecorder eine Kassette gefunden.«
»Du hast was -« Dem politischen Blond blieb der Mund offen. Trotz warmem Kerzenlicht und aufwendigem Makeup sah sie plötzlich bleich aus.
»Ich bin -«, Wössner lächelte unbehaglich, »- ich habe die Kassette nicht an die Polizei weitergegeben.«
Jenny Mayer rückte vom Tisch weg. Ihre Hände zitterten.
»Darf ich dir noch etwas Margaux nachschenken?« Wössner hob die Weinflasche und schaute Jenny an. Sein Lächeln wurde sicherer.
»Du Schwein.«
»Ich verstehe nicht, worüber du dich aufregst. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht zur Polizei gegangen bin.«
Jenny Mayer atmete heftig. Ihr Blick war kälter geworden als das Essen auf dem Tisch. »Was willst du dafür?«
»Aber liebe Jenny, habe ich denn gesagt, dass ich etwas dafür will? Du weißt doch, wie sehr ich dich schätze.« Wössners Lächeln war zu einem echten Grinsen angeschwollen. »Als Frau.«
»Seit heute ist das Pergamon-Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Aber ist es noch dasselbe Museum? Werden die zahllosen Schulklassen anders über den Marmor schlurfen als zuvor? Wird der Pergamon-Altar wieder das, was er vor mehr als zweitausend Jahren schon einmal war? Ein Ort von Kult?«
Kyra hörte ein schwaches Geräusch an der Tür. Sie drehte sich um.
»Guten Tag«, sagte Nike Schröder. Zart wie weiße Schokolade.
»Hi.« Kyra schaute auf den Bildschirm zurück. Beschissener Anfang. Sie löschte die ersten sechs Zeilen. Am liebsten hätte sie das Ganze gelöscht. »Wars schön gestern im Konzert?«
»Oh, Herr Pawlak hat Ihnen bereits erzählt, dass wir in der Philharmonie waren?«
»Hätten Sie es lieber geheim gehalten?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Es war sehr interessant. Herr Pawlak hat mir viel über Messiaen und die serielle Musik erzählt.«
»Das glaub ich«, lachte Kyra sauer. »Bei serieller Musik läuft Franz immer zu Hochform auf.« Ohne sich umzudrehen, spürte Kyra, wie die Kleine näher kam und kurz hinter ihr stehen blieb. Ein Engel geht durch den Raum. »Ach. Haben Sie doch noch mal in der ›Ilias‹ nachgesehen, ob Sie meine Stelle finden können?«
»Wie?« Irgendetwas grieselte Kyra den Rücken hinunter. Sie fasste nach dem Buch, das aufgeschlagen neben dem
Computer lag. »Nein. Ich brauche das für meinen eigenen Artikel.«
»Da sind aber viele Anstreichungen drin.«
»Haben Ihnen die Lehrer verboten, Anstreichungen in Büchern zu machen?«
»Ooh.« Die Kleine machte ein bewunderndes Geräusch. »Das links, das ist ja Griechisch.«
»Was dagegen?«
»Ach, bitte. Können Sie mir etwas auf Griechisch vorlesen? Bitte, bitte.«
Kyra zog das Buch an sich. »Ich hab schon seit über zehn Jahren kein Griechisch mehr gelesen.«
»Ach, versuchen Sie es doch. Bitte, bitte.«
»Wissen Sie, was Sie sind? Eine Nervensäge.
- EK DE HOI HPAR OLISTHEN, ATAR MELAN HAIMA KAT’ AUTU KOLPON ENEPLESEN«, las sie. Stockend.
Nike Schröder klatschte begeistert. »Und was bedeutet das?«
Kyra schwenkte ihren Blick auf die rechte Buchseite.
»Doch der stieß ihn mit dem Schwert in die Leber,
Und heraus glitt ihm die Leber, und das schwarze Blut
erfüllte
Von ihr den Bausch des Gewands, und dem umhüllte
Dunkel die Augen,
Und das Leben verging ihm.«
»Puh.« Die
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