Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
»Die Alte hat ein Problem damit, dass sie auf gar niemanden steht.«
»Sie würden also nicht sagen, dass sich das Arbeitsklima seit der Zusammenlegung Ihrer beiden Institute negativ verändert hat?«
»Nein. In keinster Weise. Wir hatten freundschaftliche Verhältnisse von Anfang an.«
Kyra warf einen kurzen Blick auf den Kassettenrecorder, um zu sehen, wie viel Platz noch auf dem Band war. Nike saß neben ihr und hielt dem weißbärtigen Professor das Mikrofon hin. Der alte Mann und das Mädchen lächelten sich herzlich an.
Kyra blätterte eine neue Seite ihres Ringblocks auf. »Können Sie mir etwas über die spektakulärsten Fälle erzählen, mit denen Sie in letzter Zeit zu tun hatten?«
Der Professor dachte einen Moment nach. »Letzten Monat, da hatten wir einen sehr außergewöhnlichen Fall. Zwei Arbeiter hatten in einer Böschung an einem S-Bahn-Damm
ein Skelett gefunden. Die ersten Untersuchungen ergaben, dass die Leiche dort mindestens zwei Jahre gelegen haben musste. Normalerweise ist es bei so langen Liegezeiten schwer, den Toten noch zu identifizieren. Aber in diesem Fall hatten wir ein unwahrscheinliches Glück. Im Gebiss des Skelettes fehlten zwei Schneidezähne. Und zwar von Geburt an. Im Oberkiefer waren an dieser Stelle überhaupt keine Zahnwurzeln vorgesehen. Eine äußerst seltene Missbildung. Der Vergleich mit den Unterlagen bei der Polizei ergab, dass es sich um einen jungen Mann handelte, den seine Eltern tatsächlich vor ziemlich exakt zwei Jahren als vermisst gemeldet hatten.«
»Was für Identifizierungsmöglichkeiten haben Sie, wenn Sie nicht so glücklich sind, dass es eine auffällige Besonderheit gibt, oder wenn das Gebiss völlig fehlt?«, fragte Kyra weiter.
»Sie meinen, wenn wir ein unvollständig erhaltenes Skelett finden? Dann sieht die Sache schwieriger aus, aber Gott sei Dank gibt es immer noch individuelle Skelettmerkmale, wie zum Beispiel Hinweise auf alte Frakturen und chirurgische Behandlungsmaßnahmen. Wenn wir Glück haben, finden wir Osteosynthesematerial wie Platten oder Schrauben, es können -« »Ich meine nicht nur bei Skelettfunden«, unterbrach Kyra den Redefluss des Rechtsmediziners. »Welche Methoden zur Identifizierung haben Sie, wenn sie mit einer - nun ja: ›normalen‹ Leiche ohne Kopf konfrontiert sind.« Sie spürte, wie die Kleine neben ihr aufmerkte.
»Ja, dann ist es natürlich einfacher. In diesem Fall nehmen wir zunächst einmal die Fingerabdrücke und machen eine Leichendaktyloskopie. Dann hoffen wir, dass äußerliche Individualmerkmale wie Narben, Hautveränderungen oder auffällige Tätowierungen vorhanden sind. Körperlänge und Konstitutionstyp können auch erste Hinweise geben. Bei der Leichenöffnung suchen wir dann nach wesentlichen
Organerkrankungen, nach Besonderheiten wie zum Beispiel Einnierigkeit, nach früheren Behandlungsspuren, wir schauen, ob der Wurmfortsatz noch da ist, ob die Gallenblase noch da ist, und so weiter. Sobald uns die Polizei einen konkreten Verdacht mitteilt, um wen es sich bei der Leiche handeln könnte, machen wir den DNA-Fingerprint.«
»Und wie zuverlässig sind diese Methoden?«
»Das ist pauschal schwer zu beantworten. Der DNA-Fingerprint ist hundert Pprozent zuverlässig. Ansonsten kommt es drauf an. Wenn wir Pech haben, sind wir mit einer vollkommen durchschnittlichen Leiche konfrontiert, die keinerlei besondere Merkmale hat. Dann kann die Identifizierung schwierig werden.«
»Die Leiche, die sie im Pergamon-Museum gefunden haben, konnten Sie die zuverlässig identifizieren?«
»Sie haben sicher Verständnis dafür, dass ich keine Auskünfte über Fälle geben kann, bei denen die Ermittlungen noch laufen.« Der Mann im weißen Kittel lächelte. Granit war dagegen ein Pausensnack. »Wenn Sie hier im Moment keine Fragen mehr haben, dann lassen Sie uns doch in den Sektionssaal gehen, damit ich Ihnen die Örtlichkeiten dort zeigen kann.«
Kyra packte ihren Notizblock ein, Nike das Mikro und den Kassettenrecorder, und im Gänsemarsch folgten sie Professor Dollitzer die Treppe hinunter. Er öffnete die Stahltür zu einem verwinkelten weißen Labyrinth. An den Wänden hingen großformatige Fotos in Farbe und Hochglanz. Eine Frau mit schwarzem Loch in der Schläfe. Ein Handschuh, menschliche Haut, im Wasser abgelöst. Eine geöffnete Kehle, aus der ein Flaschenhals herausragte.
Atemlos folgten die beiden Frauen dem Rechtsmediziner, der seine Lieblingsfotos im Vorbeigehen kommentierte.
»Zusammen mit
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