Die historischen Romane
ich langweile mich. Ich habe Verdauungsstörungen und kann mich nicht einmal mehr mit gutem Essen trösten. Ich mache mir eine Suppe zu Hause, und wenn ich in ein Restaurant gehe, kann ich hinterher die ganze Nacht nicht schlafen. Manchmal muss ich mich übergeben. Auch das Urinieren geht nicht mehr so leicht wie früher.
Ich besuche immer noch die Redaktion der Libre Parole , aber selbst Drumonts antisemitische Ausbrüche können mich nicht mehr erregen. An dem, was auf dem Prager Friedhof geschehen ist, arbeiten jetzt die Russen.
Die Affäre Dreyfus brodelt weiter, jeden Tag gibt es etwas Neues, heute die unerwartete Stellungnahme eines katholischen Dreyfusards in der Zeitung La Croix , die immer wütend antidreyfusardisch war (schöne Zeiten, als La Croix sich noch für Diana engagierte!), gestern berichteten alle Blätter auf Seite eins über eine gewalttätige antisemitische Demonstration auf der Place de la Concorde. Im Figaro erschien vor einiger Zeit eine Karikatur von Caran d’Ache mit der Überschrift Un diner en famille : Zwei Zeichnungen, in der ersten sitzt eine vielköpfige Familie harmonisch um einen Tisch, und der Patriarch mahnt mit erhobenem Finger: »Vor allem, lasst uns nicht über die Affäre Dreyfus reden!«; unter der zweiten steht: »Sie haben darüber geredet«, und man sieht eine wüste Schlägerei, in der jeder jedem an die Gurgel geht.
Die Affäre spaltet die Franzosen, und wie man da und dort liest auch den Rest der Welt. Wird der Prozess wieder aufgenommen? Einstweilen ist Dreyfus noch auf der Teufelsinsel. Gut so.
Neulich bin ich zu Pater Bergamaschi gegangen und fand ihn alt und müde geworden. Kein Wunder, wenn ich jetzt achtundsechzig bin, muss er inzwischen fünfundachtzig sein.
»Ich wollte mich gerade von dir verabschieden, Simonino«, sagte er. »Ich gehe zurück nach Italien, um meine Tage dort in einem unserer Häuser zu beschließen. Ich habe genug für die Glorie des Herrn getan. Aber du, lebst du noch immer inmitten so vieler Intrigen? Mir sind Intrigen inzwischen verhasst. Wie schön war es doch zu deines Großvaters Zeiten – dort die Carbonari und hier wir, man wusste, wer und wo der Feind war. Ich bin nicht mehr der von damals.«
Er ist schon etwas verwirrt. Ich habe ihn brüderlich umarmt und bin gegangen.
* * *
Gestern kam ich an der Kirche Saint-Julien-le-Pauvre vorbei. Neben dem Eingang saß ein menschliches Wrack, ein blinder Krüppel mit kahlem Kopf voll blauroter Narben, der eine triste Melodie auf einer kleinen Flöte spielte, die er in einem Nasenloch hielt, während aus dem anderen ein leises Zischen ertönte und der Mund sich wie bei einem Ertrinkenden öffnete, um Atem zu schöpfen.
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte auf einmal Angst. Als wäre das Leben etwas Hässliches.
* * *
Ich kann nicht mehr gut schlafen, ich habe wilde Träume, in denen mir Diana bleich und zerzaust erscheint.
Oft gehe ich frühmorgens aus, um zu sehen, was die Tabaksammler machen. Ich war schon immer fasziniert von ihnen. Wenn es hell wird, gehen sie umher mit ihrem stinkenden Sack, den sie sich vor den Bauch gebunden haben, und einem Stock mit eiserner Spitze, mit dem sie die Stummel aufspießen, auch wenn sie unter einem Tisch liegen. Es ist amüsant zu sehen, wie sie aus den Cafés im Freien von den Kellnern verjagt werden, mit Fußtritten und manchmal auch mit einer Seltersdusche aus der Siphonflasche.
Viele haben die Nacht am Seineufer verbracht, und morgens kann man sie auf den Quais sitzen sehen, wo sie den noch vom Speichel feuchten Tabak von der Asche trennen oder sich das mit Tabaksäften getränkte Hemd waschen und in der Sonne trocknen lassen, während sie mit ihrer Arbeit fortfahren. Die Kühnsten sammeln nicht nur Zigarrenstummel, sondern auch Zigarettenkippen, bei denen das Trennen des Tabaks vom nassen Papier noch ekliger ist.
Dann sieht man sie ausschwärmen zur Place Maubert und Umgebung, um ihre Ware zu verkaufen, und kaum haben sie etwas verdient, verschwinden sie in einer Kaschemme, um sich mit dem zerrüttenden Alkohol vollaufen zu lassen.
Ich schaue dem Leben der anderen zu, um mir die Zeit zu vertreiben. Denn ich selber lebe wie ein Pensionär oder ein Kriegsveteran.
* * *
Es ist seltsam, aber mir ist, als hätte ich Sehnsucht nach den Juden. Sie fehlen mir. Seit meiner Jugend habe ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist es, als hätte Golowinski ihn mir geraubt.
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