Die historischen Romane
lief die ganze Nacht in der Frascheta herum und sagte mir: Da hatte ich nun mein ganzes bisheriges Leben damit verbracht, mir Wesen aus anderen Welten vorzustellen, und in meiner Phantasie waren sie wie märchenhafte Wunderwesen erschienen, die mit ihrem Anderssein die unendliche Macht des Herrn bezeugten, und als der Herr mich einlud, zu tun, was alle anderen Männer tun, da hatte ich nicht ein Wunderwesen, sondern etwas Grauenhaftes gezeugt. Mein Kind war eine Lüge der Natur, Herr Otto hatte recht gehabt, aber mehr, als er selber dachte: Ich war ein Lügner und hatte so sehr als Lügner gelebt, dass sogar mein Samen eine Lüge hervorgebracht hatte. Eine tote Lüge. Und da habe ich begriffen ...«
»Heißt das«, fragte Niketas zögernd, »du hast beschlossen, dein Leben zu ändern?«
»Nein, Kyrios Niketas, ich sagte mir, wenn dies mein Schicksal war, dann war es nutzlos, dass ich versuchte, wie die anderen zu sein. Ich war nun ganz und gar der Lüge verschrieben. Es ist schwer zu erklären, was mir durch den Kopf ging. Ich sagte mir: Solange ich erfand, habe ich Dinge erfunden, die nicht wahr waren, aber wahr wurden. Ich habe San Baudolino erscheinen lassen, ich habe eine Bibliothek in Sankt Viktor erschaffen, ich habe die Magierkönige durch die Welt ziehen lassen, ich habe meine Stadt gerettet, indem ich eine magere Kuh mästen ließ, wenn es in Bologna Doktoren gibt, ist das auch mein Verdienst, ich habe in Rom mirabilia erscheinen lassen, von denen sich die Römer nichts träumen ließen, ich habe ausgehend von einer Kabbala jenes Hugo von Gabala ein Reich erschaffen, das an Schönheit nicht seinesgleichen hat, bis ich dann eine Traumgestalt liebte und sie Briefe schreiben ließ, die sie nie geschrieben hatte, die aber jeden, der sie las, in schmachtende Verzückung trieben, sogar die Verfasserin selbst, die sie nie geschrieben hatte, und dabei war sie immerhin eine Kaiserin. Und das einzige Mal, dass ich etwas Wahres machen wollte, mit einer Frau, die aufrichtiger und wahrhaftiger nicht sein konnte, da habe ich versagt: Ich habe etwas produziert, von dem niemand glauben und wünschen kann, dass es existiert. Darum ist es besser, ich ziehe mich in die Welt meiner Wunderwesen zurück, denn in der kann ich wenigstens selbst entscheiden, in welchem Maße sie eben wunderbar sind.«
19. Kapitel
Baudolino ändert den Namen seiner Stadt
»Ach, armer Baudolino«, sagte Niketas, während sie mit den Vorbereitungen für den Aufbruch fortfuhren, »Weib und Kind verloren in der Blüte deiner Jahre. Und auch ich, auch ich kann morgen das Fleisch von meinem Fleische verlieren und meine geliebte Frau durch die Hand eines dieser Barbaren! O Konstantinopel, Königin der Städte, Zelt des Allerhöchsten, Lob- und Preislied Seiner Diener, Entzücken der Fremden, Kaiserin der Kaiserstädte, Lied der Lieder, Zierde der Zierden, einzigartiges Schauspiel der allerseltensten Dinge, was wird aus uns werden, wenn wir dich verlassen, nackt, wie wir aus dem Mutterleib kamen? Wann werden wir dich wiedersehen, nicht wie jetzt eine Stätte der Verwüstung, ein Tal des Jammers, ein Tummelplatz feindlicher Heere ...?«
»Lass gut sein, Kyrios Niketas«, sagte Baudolino, »und vergiss nicht, dass du vielleicht zum letzten Mal Gelegenheit hast, von diesen Delikatessen zu kosten, die eines Lukullus würdig sind. Wie heißen diese Fleischbällchen, die den Duft eures Gewürzmarktes haben?«
»Kephtedes, und der Duft kommt von Zinnamom und etwas Minze«, antwortete Niketas, schon wieder getröstet. »Und für den letzten Tag ist es mir gelungen, uns ein wenig Anislikör bringen zu lassen. Du musst ihn trinken, während er sich im Wasser auflöst wie eine Wolke.«
»Er ist gut, er benebelt nicht, man fühlt sich, als ob man träumt«, sagte Baudolino. »Den hätte ich nach Colandrinas Tod trinken sollen, vielleicht hätte ich sie dann vergessen können, so wie du bereits das Unglück deiner Stadt vergisst und alle Furcht vor dem verlierst, was morgen geschehen wird. Statt dessen betäubte ich mich mit dem Wein unserer Gegend, der einen sofort einschlafen lässt, aber wenn man danach wieder aufwacht, geht es einem noch schlechter als vorher.«
Baudolino brauchte ein ganzes Jahr, um die tiefe Schwermut zu überwinden, in die er gefallen war, ein Jahr, von dem er nur in Erinnerung hatte, dass er ausgedehnte Ritte durch Wälder und Ebenen machte, dann irgendwo anhielt und sich volllaufen ließ, bis er in einen langen unruhigen
Weitere Kostenlose Bücher