Die historischen Romane
von der Notwendigkeit einer Umkehr sprach, ob Heiliger oder Ketzer, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Heute reden alle davon. In gewissem Sinne diskutiert sogar der Papst darüber. Misstraue den Erneuerungen der menschlichen Gattung, wenn die Kurie und die Fürstenhöfe davon zu reden beginnen!«
»Aber Fra Dolcino«, warf ich aufs Geratewohl ein, begierig, mehr über diesen Mann zu erfahren, dessen Name seit unserer Ankunft in der Abtei schon mehrmals gefallen war.
»Er ist tot, und er starb so schlimm, wie er lebte, denn auch er war zu spät gekommen. Was weißt du überhaupt von ihm?«
»Nichts, deshalb frage ich ja.«
»Ich spreche nicht gern über ihn. Ich habe mit einigen der sogenannten Apostler zu tun gehabt, ich habe sie aus der Nähe beobachtet. Eine traurige Geschichte, sie würde dich sehr beunruhigen. Mich hat sie jedenfalls sehr beunruhigt, und noch mehr beunruhigen würde dich meine Unfähigkeit, ein klares Urteil über sie abzugeben. Es ist die Geschichte eines Mannes, der schlimme und sinnlose Dinge tat, weil er praktizierte, was viele Heilige ihm gepredigt hatten. Von einem bestimmten Punkt an habe ich nicht mehr verstanden, wer die Schuld daran trug, ich war wie... wie benebelt angesichts einer gewissen Familienähnlichkeit zwischen den beiden Lagern, dem der Heiligen, die den Menschen die Buße predigten, und dem der Sünder, die sie dann praktizierten, oft auf Kosten der anderen... Aber ich sprach von etwas anderem. Oder nein, ich meinte immer dasselbe: Die Zeit der wahren Bußfertigkeit ist vorbei, für Büßenden ist das Bedürfnis nach Buße zu einem Bedürfnis nach Tod geworden. Und jene, die ihrerseits nun diese wildgewordenen Büßer töteten, womit sie Tod zu Tod fügten, um die wahre Buße, die todbringend war, zu vernichten, haben die Bußfertigkeit der Seele ersetzt durch eine Bußfertigkeit der Einbildung, eine Beschwörung übernatürlicher Leidens- und Blutvisionen, die sie dann ›Spiegel‹ der wahren Buße nannten. Ein Spiegel, der in den Phantasien der Laien, aber zuweilen auch der Gelehrten, die Qualen der Hölle lebendig macht. Damit künftig – so heißt es – niemand mehr sündigen mag. So hofft man, durch Angst die Seelen vom Sündigen abzubringen, und so versucht man, das Aufbegehren durch Angst zu ersetzen.«
»Und werden sie nun wirklich nicht mehr sündigen?« fragte ich zweifelnd.
»Das hängt ganz davon ab, was du unter sündigen verstehst, lieber Adson«, sagte mein Lehrer. »Ich will nicht ungerecht sein mit den Bewohnern dieses Landes, in dem ich nun schon seit einigen Jahren lebe, aber es scheint mir typisch für die geringe Tugend der Italiener, dass sie nur aus Angst vor irgendeinem magischen Bildnis nicht sündigen, solange es nur den Namen eines Heiligen trägt. Sie haben mehr Angst vor den Bildern des heiligen Sebastian oder des heiligen Antonius als vor Christus. Wenn hierzulande jemand einen Platz sauberhalten will, auf dass niemand darauf sein Wasser abschlage, wie es die Italiener nach Art der Hunde tun, so hängt er einfach ein Bild des heiligen Antonius mit der Holzspitze auf, und das verjagt dann die Pinkler. So laufen die Italiener Gefahr, in den alten Aberglauben zurückzufallen. Sie glauben nicht mehr an die Auferstehung des Fleisches, sie fürchten sich nur noch vor Unglück und körperlichen Verletzungen, und deswegen haben sie mehr Angst vor dem heiligen Antonius als vor Christus.«
»Aber Berengar ist nicht Italiener«, gab ich zu bedenken.
»Das macht nichts, er lebt hier, und ich spreche vom geistigen Klima, das die Kirche und die Predigerorden in diesem Lande verbreitet haben und das hier alles durchdringt. Es erreicht sogar diese ehrwürdige Abtei voller gelehrter Mönche.«
»Aber die sündigen doch wenigstens nicht«, beharrte ich, bereit, mich mit diesem geringen Trost zufriedenzugeben.
»Wenn die Abtei ein speculum mundi wäre, hättest du schon die Antwort.«
»Ist sie denn einer?« fragte ich.
»Damit es einen Spiegel der Welt geben kann, muss die Welt eine Form haben«, schloss William mit einem Satz, der für meinen jugendlichen Verstand zu philosophisch war.
Zweiter Tag
TERTIA
Worin man Zeuge eines vulgären Streites wird, Aymarus von Alessandria sich in Anspielungen ergeht und Adson über die Heiligkeit meditiert sowie über den Kot des Teufels. Anschließend begeben sich William und Adson erneut ins Skriptorium, William sieht etwas Interessantes, führt ein drittes Gespräch über das Erlaubtsein des
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