Die Hitzkammer
üblichen Schwielen und Schrunden. Die Nägel waren rissig und wirkten wenig gepflegt, Schmutz befand sich darunter, aber – wie Lapidius interessiert feststellte – keine Hautstückchen von j ener Art, die entsteht, wenn Frauen sich kratzend einer Vergewaltigung erwehren wollen.
Mit einiger Anstrengung drehte Lapidius den Leib auf die Seite, damit er den Rücken untersuchen konnte. Sofort sprang ihm eine Auffälligkeit ins Auge: runde rötliche Druckstellen von unterschiedlicher Größe. Es waren Hämatome. Sie bildeten eine Art Muster, das an die Fünf auf einem Würfel erinnerte. Sie sahen hässlich aus, hatten aber mit Sicherheit nicht zum Exitus geführt. Lapidius bettete die Frau wieder auf den Rücken, bedeckte ihre Blöße und richtete sich auf. Zum ersten Mal betrachtete er das Gesicht der Fremden näher. Es wirkte friedlich und jung, und es war schön, trotz des vielen Blutes. Weiße Zähne schimmerten durch die leicht geöffneten Lippen. Er schob ein Lid hoch und stellte fest, dass die Tote blaue Augen gehabt hatte. Abermals betrachtete er den Mund, und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, drückte er die Kiefer auseinander und senkte seine Nase in die Mundhöhle. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und sog zwei-, dreimal tief die Luft ein. Schließlich war er fast sicher, einen ganz bestimmten Geruch wahrgenommen zu haben – den Geruch nach Bilsenkraut. Er schob die Kiefer wieder zusammen und erschauerte. Ihm war eingefallen, dass es im Volksmund noch einen anderen Namen für Bilsenkraut gab:
Teufelsauge.
Lapidius stand vor dem ausgehobenen Grab und stellte sich die sterblichen Überreste der Toten darin vor. Eine junge Frau war ermordet worden. Anfang zwanzig war sie gewesen, höchstens. Und schön. Eine Frau, die das Leben noch vor sich gehabt hatte und die vielleicht irgendwo von j emandem vermisst wurde. Wehmut umfing ihn. Würde der Pfarrer ein paar Worte sprechen? Niemand konnte wissen, ob die Fremde rechtgläubig gewesen war oder sich schon der neuen Lehre des Doktor Martin Luther angeschlossen hatte. Manche Geistliche verweigerten den Segen, wenn ein Mensch den falschen Gott anbetete. Lapidius, der sich aus Glaubensstreitigkeiten strikt herauszuhalten pflegte, hoffte, dass der zuständige Pfarrer ein großmütiges Herz hatte, auch wenn es hier nur um ein Armenbegräbnis ging und keine Verwandtschaft da war, die ihm den einen oder anderen Taler für seine Bemühungen zustecken konnte.
Lapidius wandte sich an den Totengräber, der etwas abseits stand und sein Arbeitsgeschirr reinigte. »Sag mal, Krott, warst du es, der die Tote vom Markt hierher geschafft hat?« Krott kam höflich einen Schritt heran. »Ja, Herr, habich, ich war grad in der Näh, un da habich sie aufn Wagen gepackt.«
»Aha.« Lapidius stellte sich die Situation vor. »War das der Wagen, unter dem sie frühmorgens von diesem … äh …«
»Holm, Herr. Der olle Holm, der hattse gefunden.«
»Holm, richtig, der Büttel erwähnte den Namen. Also, war das der Wagen, unter dem sie von Holm gefunden worden war?«
»Nee, Herr, hab sie mit meim eignen Karren gefahrn. Der andere, das war doch der vonner Säckler. Wusstet Ihr das nich, Herr?«
Lapidius stutzte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Der Todeswagen gehörte also Freyja. Wieso hatte Krabiehl ihm das nicht gesagt? Noch dazu, wo er, Lapidius, am Morgen ausdrücklich nach Neuigkeiten in dem Fall gefragt hatte? »Wo befindet sich der Wagen jetzt?«
»Weiß nich. Is wohl noch dort, Herr.«
»Nun gut.« Lapidius kam ein anderer Gedanke. »Hatte der Rigor mortis schon voll eingesetzt, als du die Leiche auf deinen Wagen hobst?«
»Der Ri… nee, Herr.« Krott guckte unsicher auf. »So was bestimmt nich.«
»Natürlich.« Lapidius schalt sich für seine unverständliche Ausdrucksweise. »Aber die Totenstarre hatte sich schon ausgebreitet, nicht wahr?«
»Oh, ja, Herr. Die Tote war steif wien Brett, als ich sie hochgewuchtet hab. Abers ging gut, nur mitm Kopp wars schwer, der war fast ab.«
»Ja, es scheint, die Tote wurde ermordet.«
»Ja, Herr.« Krott nickte scheu.
»Weißt du, wer es getan haben könnte?«
»Nee, Herr, wahrhaftich nich.«
»Danke.« Lapidius hatte keine andere Antwort erwartet. »Du hast mir sehr geholfen.«
»Gerne, Herr, schönen Tach noch.« Lapidius schlug unverzüglich den Weg zum Gemswieser Markt ein, wo er wenig später ankam. Stalmann, der Bürgermeister, hatte gesagt, Unruhe, ja Aufruhr
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