Die Hitzkammer
»Weißt du, ich glaube, ich komme mit meinen Nachforschungen recht gut voran. Ich habe schon einen Verdächtigen, der hinter allem stehen könnte.« Er dachte an Tauflieb und wollte schon von seiner Vermutung sprechen, dass der Meister die beiden jungen Frauen getötet hatte, da fiel ihm ein, dass Freyja zwar von Gunda Löbesams Schicksal wusste, aber nichts von dem Frauenkopf über seiner Tür. Um sie zu schonen, hatte er kein Wort darüber verloren. Und auch Marthe hatte er gebeten, Stillschweigen zu bewahren.
Also sagte er: »Lass mich noch einmal zu deinen lückenhaften Erinnerungen kommen. Ich meine die Stunden oder Tage, die dir im Gedächtnis fehlen. Du sprachst von Augen, deren Farbe du nicht erkennen konntest, von Händen, die wahrscheinlich Männerhände waren, und von einer Stimme, die fest und freundlich klang und dich an einen warmen, wundervollen Ort einlud. Dies, wenn ich mich recht entsinne, mehrere Male. Ich habe nun nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Begegnung mit dem Unbekannten – oder besser: den Unbekannten, denn ich bin fast sicher, es waren drei –, dass diese Begegnung höchstwahrscheinlich in den Bergen stattfand, zumal du davon sprachst, später bergab gerannt zu sein. Das Problem nun ist: Kirchrode ist allseits von Gebirge umgeben. Die Suche nach dem Ort, an dem du aus dem, äh … Bann erwachtest, gleicht somit dem Forschen nach der Nadel im Heuhaufen. Dennoch ist der Ort von großer Wichtigkeit. Spuren, Beweise, Gegenstände könnten dort sichergestellt werden – Dinge, die mir helfen, die Täter zu entlarven. Versuche doch noch einmal, dich an Einzelheiten zu erinnern. An Begebenheiten, die vor dem Erwachen geschahen. Du erzähltest etwas von roten Tönen, die, glaube ich, ineinander verschwammen. War es nicht so, Freyja? Freyja …?«
Lapidius’ Patientin war eingeschlummert. Das Laudanum hatte sie von den Schmerzen erlöst und in einen Erschöpfungsschlaf fallen lassen. Ihm war es recht. Er konnte seine Fragen auch später noch stellen. Jede Stunde, in der Freyja nicht litt, war eine gewonnene Stunde für sie. Er betrachtete ihre schmale Gestalt und stellte fest, dass die Hautflächen dringend neuer Quecksilberschmiere bedurften.
Er sperrte die Türklappe ab, klaubte die leeren Becher auf und stieg hinab in Marthes Reich. Die Magd stand am Tisch und bereitete Hasenpfeffer zu. Ein Sonntagsgericht und überdies eines von Lapidius’ Lieblingsessen. »Freyja hat wunde Druckstellen am Rücken«, sagte er. »Nimm dafür die Salbe, die du auch deiner Mutter gegen das Zipperlein gibst. Und lege ein paar Kompressen auf.«
Marthe briet das Fleisch in einem eisernen Topf an. Sie nahm dazu Gänsefett. Es zischte gewaltig. »Marthe ! «
»Ja, Herr?«
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja, Herr, ich tus gleich. Kannnich alles auf einmal.«
Das sah Lapidius ein. Auch wenn ihm, zum wiederholten Male, Marthes Ton als nicht angemessen erschien. »Und dann muss Kalkpulver auf die Geschwüre am Mund, und ein Diaphoretikum könnte auch nicht schaden, denn Freyja hat von mir viel Flüssigkeit bekommen. Das Wichtigste aber ist: Die Quecksilbersalbe muss erneuert werden.«
»Das Zeugs is alle, Herr.« Marthe schnitt Möhren, Zwiebeln und Äpfel klein.
Lapidius runzelte die Brauen. »Was? Schon? Nun gut, dann werde ich neues Unguentum herstellen. Erledige aber vorab schon die anderen Arbeiten.«
Wie sich nach dem Mittagsmahl zeigte, welches im Übrigen vorzüglich mundete, war das leichter gesagt als getan. Denn Lapidius besaß kein iodiertes Quecksilber mehr. So musste er nach alter Väter Sitte vorgehen und zunächst reines Hydrargyrium gewinnen, bevor er das Unguentum anmischen konnte. Das Unterfangen war nicht unkompliziert, und es kostete ihn mehrere Stunden intensiver Arbeit. Er begann damit, dass er einen eisernen Dreifuß mitten auf den Hof stellte. Der stabile Ring diente als Halterung für einen großen irdenen Topf, den Lapidius aus dem Schuppen hinter seinem Haus hervorholte. Dann schritt er zu der Truhe mit den Gesteinen und entnahm ihr einige dicke Brocken besten spanischen Zinnobers. Die tat er in den Topf. Anschließend gab er aus dem Athanor zwei Finger hoch Asche hinzu, die er mit einem runden Buchenscheit kräftig feststampfte. Damit war der erste Teil der Arbeit geschafft.
Lapidius gönnte sich eine Verschnaufpause und ging die Böttgergasse hinauf bis zu der Stelle, wo ein neues Fachwerkhaus entstand. Hier bat er den Bauherren um einen halben
Weitere Kostenlose Bücher