Die Hölle von Tarot
bis er sich ergab. Zwei und mehr Angreifer konnte man besiegen, einen Mann mit einem Messer oder einem Stock leicht entwaffnen. Doch die wichtigsten Bestandteile des Judo waren Höflichkeit und Selbstdisziplin. Die Schüler erwiesen einander und ihrem Lehrer gegenüber den Respekt, der sich für Menschen gehört, die fähig sind zu töten – und sich zurückhalten können.
Es begann alles sehr langsam. Zuerst mußte Paul das Fallen lernen, so daß man ihn auf die Matte werfen konnte, ohne daß er sich weh tat. Dann arbeitete er an den Grundlagen der Wurftechnik. Zu seiner Überraschung war sein erster Partner ein schwarzes Mädchen, das ein wenig kleiner war als er. Aber sie trug den gelben Gürtel, einen Grad höher als sein weißer, und er fand schnell heraus, daß sie ihm im Nahkampf überlegen war und ihn so lange am Boden halten konnte, daß er nicht mehr hochkam. Gegenüber dieser Kampfkunst fühlte er sogleich Respekt, denn wenn ihm ein Mädchen das antun konnte, das sogar weniger wog als er – was würde er alles gegenüber den größeren Jungen ausrichten können, wenn er Judo erst beherrschte?
Am Ende der ersten Stunde nahm ihn Steve beiseite. „Wie hast du denn das blaue Auge bekommen, Paul?“ fragte er ihn, als sei ihm das nicht klar. Er ließ das Mädchen, das Karolyn hieß, Pauls Anweisungen folgen und genau darstellen, wie der Rauf er aus der Schule nach vorn getreten war und Paul mit der Rechten auf das Auge geboxt hatte. Steve nickte. „Hier ist ein Mittel dagegen. Zunächst einmal versuche, von ihm wegzukommen. Tritt zur Seite und lauf weg, wenn es sein muß. Laß ihn nicht nahe an dich rankommen.“
„Aber die anderen Kinder …“
Steve nickte. „Nun, wenn du dem nicht ausweichen kannst, dann mußt du dich verteidigen. Es gibt viele Möglichkeiten, aber diese halte ich für die beste.“ Er rief einen anderen Jungen herbei, der größer war als Paul. „Nage no kata, zweiter Griff, Uki“, sagte Steve zu ihm. Der Junge ballte die Faust und zielte auf den Kopf des Mädchens. Sie fing ihn mit dem rechten Unterarm ab, wirbelte herum, ergriff seinen Arm mit der Rechten und setzte ihren Griff an. Der Junge flog ihr über den Rücken und landete mit einem vernehmlichen Klatschen auf der Matte. „Diesen Wurf nennt man ippon seoi nage, den einarmigen Schulterwurf“, sagte Steve zu Paul. „Du wirst ihn nun lernen.“
Danach wurde Paul noch viele Male verletzt – aber nur noch selten durch seine Schulkameraden, und niemals mehr gelang es irgend jemandem, einen Schlag in seinem Gesicht zu landen. In gewisser Hinsicht wurde das Judo für ihn ein Lebensstil. Er erlangte nach dem weißen Gürtel den gelben, den orangefarbenen, den grünen und schließlich den schwarzen. Er nahm an Judoturnieren teil, gewann den einen Kampf und verlor den anderen, kämpfte aber immer fair und war in der Niederlage ebenso höflich wie im Sieg. Außerhalb der Kurse suchte er keinen Streit – und nur selten suchte jemand Streit mit ihm.
Aber immer erinnerte er sich an den ersten Kurs und wie ihn ein kleines Mädchen besiegt und am Boden gehalten hatte – und ihn deswegen niemals verspottete. Allgemein war Paul Mädchen gegenüber etwas vorsichtig, aber auf heimliche Art und Weise liebte er Karolyn. Ein paar Monate, nachdem er begonnen hatte, verließ sie den Kursus, doch sie war ihm allezeit in guter Erinnerung geblieben.
Als Paul achtzehn war, ließen sich seine Pflegeeltern scheiden. Zu jener Zeit wollte er aufs College gehen, und ein Ausbildungskonto, das seine Eltern lange Zeit früher für ihn angelegt hatten, sollte dies finanzieren. Nach dem College forschte er in seiner Ahnentafel nach – und fand heraus, daß er schwarzes Blut hatte.
„Nein, nein!“ rief Satan. „Das ist es nicht. Das war viel zu spät. Sie haben kein heimliches Rassenschuldbewußtsein; Sie waren sich nicht einmal bewußt, daß Sie für weiß gehalten wurden – und wenn dem so gewesen wäre, dann wären Sie lediglich der Lüge schuldig und nicht der Sache selber. Eine Gesellschaft, die Sie offen aus rassischen Gründen diskriminiert hätte, wäre in jedem Fall schuldiger als Sie.“
„Redet so der Satan?“ wunderte sich Bruder Paul. „Der Vater der Lüge?“
„Satan lügt niemals. Es sind die Untertanen Gottes, die lügen, betrügen, stehlen und täuschen – bis die Früchte dieser Untaten sie schließlich zu Mir bringen. Ich bin die Wahrheit – und weil die Wahrheit oftmals häßlich ist, werde ich böse genannt.“
Weitere Kostenlose Bücher