Die Hölle von Tarot
wollte ja auch ein trockenes Bett – und konnte es nicht erreichen. Irgendwie passierte es jede Nacht, wie sehr er auch versuchte, es zu verhindern.
An jenem Morgen fiel er wieder in den Schlaf – zum Glück. Nur selten verfolgten ihn Alpträume, wenn die Blase erst einmal entleert war. Die Erinnerung an das Krankenhaus schwand langsam und ängstigte ihn auch nicht mehr sonderlich. Solange er nicht wieder auf diese schreckliche Station zurück mußte … Am Morgen war es nie so schlimm. Seine Füße waren kalt, aber daran war er gewöhnt. Er hörte das ferne, gespenstische Heulen irgendeines wilden Tieres im Walde und war froh, nicht dort draußen zu sein. Er dachte an das vorausgegangene Jahr in dem Internat, wo er der kleinste von allen gewesen war und zur Einführung erst einmal kräftig verprügelt worden und entsetzt geflohen war. Doch auch dieser Alptraum war nicht so schlimm. An einem Morgen kam einer der Raufbolde, ein Junge, der ein oder zwei Jahre älter als Paul war, herein, ehe Paul aufgestanden war. „Hab’ gehört, du pißt noch ins Bett!“ rief er. „Laß mal sehen.“ Und er riß Pauls Decke herunter.
Paul hatte ins Bett gemacht. Er hatte die durchnäßte Schlafanzughose ausgezogen, und sie lag zu einem feuchten Haufen zusammengeknüllt am Fußende; von der Hüfte abwärts lag er nackt in dampfendem Urin. Der Raufbold blickte einen Augenblick herab, während Paul stillag und sich nicht zu bewegen traute, weil er einfach keine andere Wahl hatte. Den persönlichen Stolz hatte er schon lange verloren, was seinen Körper anging. Dann legte der Raufbold die Decke wieder über ihn und ging ohne eine Bemerkung hinaus. Später an jenem Tag redete dieser Junge allein mit Paul. „Wenn ich abends zum letztenmal pissen gehe, dann bleibe ich manchmal einfach noch vor dem Becken stehen, und es kommt noch etwas. Dann noch etwas. Vielleicht wartest du nicht lange genug, und wenn du das tätest, käme alles heraus, und …“ Er zuckte mit den Achseln. Er wollte ihm helfen.
Dieser Junge machte Paul keinen Ärger mehr; Paul hatte sein Mitgefühl erregt. Ein paar Tage später kam ein anderer Raufbold zu Paul, der bei einer Gruppe Jungen stand. „Ich will dich nicht mehr verprügeln“, sagte er, und sie gaben sich die Hände. „Und wenn er es tut, dann geben wir es ihm“, meinte einer der größeren Jungen. Und danach wurde Paul von niemandem mehr belästigt. Doch für ihn blieb die Schule ein Alptraum. Er wollte einfach wieder nach Hause.
Nun war er zu Hause und zufrieden. Er wußte, wo es ihm gut erging. Manchmal dachte er, alles sei nur ein langer, böser Traum, und er würde aufwachen und wieder vier Jahre alt und in Afrika in seinem wirklichen, glücklichen Leben sein, aber seit zwei Jahren wuchs die Überzeugung, daß es nie wieder so werden würde. Dieses hier war das wirkliche Leben, das andere der Traum.
Die Füße taten nicht mehr weh vor Kälte; statt dessen brannten sie, als hielte er sie in heißes Feuer. Das war schön. Paul stellte sich die züngelnden gelben und roten Flammen vor, die Funken an die Decke sprühten. Hier könnte er ewig liegenbleiben und dieses Feuer beobachten. Wenn die Hölle der Ort der Flammen und der Hitze war, so hatte er keine Angst davor und würde lieber dorthin gehen als hinaus in den Schnee an einem windigen Morgen.
Dann ließ ihn ein Wecksignal zusammenzucken. Er hatte nicht gemerkt, daß er wieder eingeschlafen war. Aber es gab keinen Zweifel: Graues Tageslicht drang durch die Fenster. Im Winter war es morgens so unendlich trübe! Einen Moment noch blieb er liegen, holte dann tief Luft, hielt den Atem an, biß die Zähne aufeinander und warf die Decke von sich. Oh, war das kalt! Der Boden war aus Holz, aber er war so kalt, daß es seine durch die Flammen verwöhnten Füße nicht ertragen konnten. Er tanzte auf den Zehenspitzen, so unangenehm war es. Nackt rannte er die Treppe hinab ins Badezimmer; dort befand sich keine Toilette, da es kein fließendes Wasser gab, aber auf dem Tisch stand ein Krug. Einst hatten alle Häuser Ölheizung und fließendes Wasser gehabt, aber die Energiekrise, die Wasserknappheit und die Umweltverschmutzung hatten viele Familien hinaus in die Wildnis getrieben, wo die Luft noch sauber und wo es möglich war, sich selbst zu versorgen. Wenn man das Wasser herbeischleppen mußte, wurde es nicht verschwendet; das half, den Grundwasserspiegel nicht weiter absinken zu lassen.
Er goß etwas Wasser in das Waschbecken, tauchte den
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