Die Hölle von Tarot
dar“, fuhr er fort. „Jeder Mensch, der Aufklärung und Wahrheit sucht. Er braucht nicht durch das Land zu gehen – der Weg ist dornig genug, selbst wenn er sein Dorf nie verläßt. Seine Kameraden mögen über ihn lachen – aber er drängt weiter, die Augen auf den Ruhm geheftet, der jene erwartet, die trotz Spott und auch Folter weitermachen. Nennt ihn einen Narren – aber die, die über ihn lachen, sind die wahren Narren.“
Einige Bauern begannen zu lachen – hielten dann aber inne. Andere begannen wiederum über diese zu lachen – und auch ihnen kam dann der zweite Gedanke. Die meisten nickten wissend. Es waren alle Narren in diesem Raum, die wegen ihres Glaubens an Gott verfolgt wurden. Bruder Paul hatte gewonnen – dank der Karten. Es war ein gutes Gefühl.
„Aber es ist besser, eine bestimmte Richtung zu wissen“, fuhr er selbstbewußter fort. „Und da haben wir also den Gaukler …“ – er hielt die Karte hoch – „… der in vielen Gestalten erscheint, doch immer mit der gleichen Botschaft. Es ist die Botschaft Jesu Christi, des ersten Großen Wundertäters, der die irrenden menschlichen Seelen zur Majestät Gottes führen wollte. Auch wenn wir ein so göttliches Beispiel vor Augen haben, finden manche von uns es doch schwer, ihm zu folgen. Es ist, als sei die Botschaft magisch, verschwände manchmal, um dann wieder aufzutauchen. Sie entfleucht uns, gerade wenn wir uns wähnen, sie zu greifen.“ Und der Stab erschien in seiner Hand, wedelte hin und her und verschwand wieder.
Er hielt inne. Sie waren nun voller Konzentration und studierten hingerissen das kleine Bild. Es redete in besseren Worten, als es diese Menschen jemals konnten – doch es bedurfte der Interpretation. Vielleicht hätte man die Botschaft der Bilder besser herausarbeiten können – aber dann hätte sie auch die Inquisition begriffen. Sie mußten deutlich sein – aber nur, wenn sie angemessen erklärt wurden. Wie Schlösser bedurften sie des richtigen Schlüssels – und mußten allen anderen Bemühungen widerstehen. Und das taten sie: Jahrhundertelang hatten eifrige Philosophen den Sinn des Tarot völlig verfehlt. Selbst das Spiel des Heiligen Ordens der Vision war traurig unvollständig, verzerrt durch eine Kette von Interpretationsfehlern – doch er hatte dies erst gemerkt, als er hierher, ins späte vierzehnte Jahrhundert, geriet. Satan hatte ihm seinen Wunsch erfüllt und ihm nicht nur das Originalspiel zur Verfügung gestellt, sondern auch die wahre Bedeutung. Doch vieles der Bedeutung mußte er noch für sich selber herausfinden – eine so komplexe Philosophie wie die des Tarot konnte man nicht von einem Augenblick zum anderen begreifen.
Bruder Paul hielt die Päpstin hoch „Aber wer versucht, uns die göttliche Botschaft zu vermitteln? Die Hure von Babylon!“ Er wurde durch wilde Schreie und Gelächter unterbrochen. Oh, diese Geschichte kannten sie! „Die Kirche ist zu einem gigantischen Inkubus geworden, der uns mit dem Versprechen der Erlösung verführt, uns aber in die Verdammnis lenkt!“
Er zeigte die Karte des Geistes. „Es ist schwer, Falsch und Richtig zu unterscheiden. ‚Sag uns, was wir tun sollen!’ rufen wir, doch die Antwort ist nur eine leere Karte. Wir sind alle unwissend. Nur Gott weiß alles, der Unendliche, der Heilige Geist, der Geist! Unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind durch die Wolken der Unwissenheit verdeckt. Wer von uns weiß, ob er nicht morgen sterben wird …“ Er hielt inne und dachte an das kranke Kind.
Dann dachte er an sich selber. Seine Anteilnahme hier war eine weitere Unbekannte. Und seine Mission zum Planeten Tarot, jener fernen, anderen Realität, hatte er fast vergessen … Diesen Gedanken schnitt er jedoch ab und spulte dann genau die Vorstellung ab, die ihm der Gaukler gegeben hatte: Herrscherin, Herrscher, Papst. Er fühlte sich bereits wie ein echter waldensischer Missionar.
Nun kam die Reihe an die Liebe. Nur, daß es sich nicht ausschließlich um die Karte ‚Liebe’ handelte, sondern auch um die ‚Wahr. Jahrhundertelang war diese Karte entsprechend der absichtsvoll in die Irre leitenden Illustration fehlinterpretiert worden, ganz anders, als sie ursprünglich gemeint war. Ikonographische Transformation. Wenn man von dem oberflächlichen Bild absah, verstand man die Bedeutung des Symbols. Eine ähnliche Verwirrung hatte wohl die Geister karte völlig verdrängt! Sie war leer, daher stand sie für nichts, daher hatte sie nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher