Die hölzerne Hedwig
zu denen er fuhr oder die ihn besuchten? Irmtraut wusste es nicht. Arm war er, das stand fest, ohne dass
er es zugab. In der Kiesgrube hatten sie ihn eingeladen, sonst wäre er wohl nicht erschienen. Weshalb war er denn gekommen?
Hatte er sich mit jemandem getroffen? Wurde etwas getauscht?
Irmtraut hatte sich darauf gefreut, die Polizisten mit ihrem Wissen zu verblüffen und musste jetzt zugeben, kaum etwas zu
wissen.
War Irena seine Frau? Was denn sonst? Warum hatte er in seinem Haus so viel gebohrt, geklopft und abgebaut, was sich bewegen
ließ? Davon hörte sie zum ersten Mal. Gab es eine zweite Frau, mit der Bordon nach Hause gegangen war? Irmtraut genierte sich.
Wie stand sie jetzt da? Wenn das ihr Junge erfuhr! Wo steckte denn sein Vater? Wo man steckt, wenn man sich aus dem Staub
macht. Dreckskerle, die Männer. Auch im Schützenverein gab es zu viele. Aber Irmtraut schoss besser als alle Kerle. Das fesselte
sie an den Verein, hier wurde sie geschätzt. Ihr Beruf? Sie kellnerte, verkaufte auf Märkten: Wochenmarkt, Flohmarkt. Im Dorf
trug sie die Zeitungen aus. Bordon? Nichts abonniert. Die Zeitung, die morgens auf seiner Matte lag, musste ihm wohl jemand
heimlich hingelegt haben.
»Irmtraut, Irmtraut, du hast ein Herz aus Gold«, sagte Küchenmeister. Irmtraut sah aus, als würde sie gleich weinen.
|117| 21
Fleißig war Marvin immer gewesen. Jede Tracht Prügel, die er in der Schule bezogen hatte, hing mit seinem Fleiß zusammen.
Sie nannten ihn Streber. Er war so fleißig, dass er sogar den Lehrern auf die Nerven ging. »Mach halblang, Marvin«, sagte
der Klassenlehrer. »Du hast noch ein Leben Zeit, um zu lernen.« Der Mann war ein fauler Sack und wollte nichts mehr werden.
In Marvin war eine Unruhe, die ihn zwang, sich zu bewegen. Als er zu husten begann, trank er, um das Gefühl aus der Kehle
zu bekommen. Es wollte nicht vergehen, und weil man in Marvins Familie erst krank wurde, wenn man erwachsen war, nahm ihn
lange niemand ernst. Als er Blut hustete, war es schon sehr spät. Er galt als schwindsüchtig, dann war es der Kehlkopf und
als sie den Knoten herausgeschnitten hatten, küssten sie ihn ab, denn der Knoten war gutartig gewesen. Alle dachten, dass
er jetzt ein normaler Junge sein würde. Aber Marvin wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte, denn jeder Tag konnte der
letzte sein. Er war nicht ängstlich und nicht defensiv, aber er redete viel, um seine Unruhe zu übertönen, und mit den Jahren
wurde das viele Reden zu seiner Natur.
Bei der Polizei nahmen sie ihn mit Kusshand, denn er kannte das Land und die Leute und wie sie funktionierten. Er war nicht
faul und bräsig und es zog ihn nicht in die Stadt. Längst war Marvin derjenige, der den Polizeiposten am Leben hielt. Er hatte
sich an sein Leben gewöhnt und dann waren die beiden Kommissare gekommen. Seit zwei Tagen war Marvin ein neuer Mensch. Er
redete noch mehr als gewöhnlich, denn er wollte beweisen, wie flink er war und was er konnte. |118| Sie mochten ihn, das war ihm klar. Aber es war die Sympathie, die man einem Hund entgegenbringt, der sich anstellig zeigt.
Geleistet hatte Marvin noch nichts. Die Zeit lief ihm davon, die Kommissare arbeiteten von morgens bis abends, ständig telefonierten
sie mit ihren Kollegen. Ein Wort, und zehn Polizisten sprangen für sie los. Marvin war allein, er hatte nur einen Vorteil:
Er kannte sich hier aus.
In den ersten Stunden hatte er den Profis gezeigt, was er alles wusste. Freiwillig hatte er seine Trümpfe aus der Hand gegeben.
Das durfte so nicht weitergehen, sonst würde er am Ende mit leeren Händen dastehen, während die Kommissare in der Zeitung
erscheinen würden als diejenigen, die den Mord aufgeklärt hatten. Die im Schatten sah man nicht. Ohne Marvins Kontakte hätten
sie im Nebel stochern müssen. Nur weil Marvin ihnen ans Herz gelegt hatte, sich gleich nach ihrer Ankunft von den Kroaten
zeremoniell begrüßen zu lassen, hatten die Neubürger sich schon viermal bei ihm gemeldet. Brauchbares hatten sie nicht anzubieten,
aber zuletzt hatten sie ihm immerhin verraten, dass sie den Antrag auf Einbürgerung gestellt und sich allein schon deshalb
von den Rumänen fern gehalten hätten. Sie wollten nicht den Eindruck erwecken, dass die Ausländer von Hammerloh einem Klub
angehörten. Die Kroaten sehnten sich danach, Deutsche zu werden. Faktisch waren sie es schon lange, Marvin kannte niemanden,
der so hart und lange arbeitete
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