Die Hofnärrin
wir im Haus sind, kannst du dich meinetwegen
davonschleichen, aber hier draußen bringst du Mr. Dee und mich in
Gefahr. Nun komm schon, und geh später, wenn du unbedingt musst.«
Wie immer jagte die Vorstellung, beobachtet zu werden, mir
unsägliche Angst ein. Ich warf dem Pagen die Zügel meiner Stute zu und
folgte Kat, die uns durch eine kleine, mit Efeu bewachsene Pforte
führte, die mir trotz meines langen Aufenthaltes im Palast noch nie
aufgefallen war. Sie führte uns eine Wendeltreppe hoch, und wir
betraten den Palast durch eine weitere, hinter einem Gobelin verborgene
Geheimtür, die den Gemächern der Prinzessin gegenüberlag.
Kat klopfte ein vereinbartes Zeichen an die Tür, und diese
wurde uns sogleich aufgetan. Rasch gingen John Dee und ich hinein.
Niemand hatte uns gesehen.
Elisabeth saß auf einem Schemel am Fenster und hielt eine
Laute auf den Knien, während ihr neuer italienischer Lautenlehrer
wenige Schritte entfernt Notenblätter auf den Ständer legte. Die ganze
Szene wirkte so unschuldig, dass sich mir die kurzen Härchen in meinem
geschorenen Nacken aufstellten.
Elisabeth blickte auf. »Oh, Hannah.«
»Kat hat mich hereingezerrt«, sagte ich. »Ich glaube, ich
sollte lieber gehen.«
»Warte einen Augenblick«, erwiderte sie.
Kat Ashley stemmte ihren mächtigen Hintern gegen die Holztür
und hütete den Eingang.
»Könnt Ihr besser sehen, wenn Hannah Euch assistiert?«, wollte
Elisabeth von John Dee wissen.
»Ohne sie kann ich nichts sehen«, erwiderte er freimütig. »Ich
habe die Gabe nicht. Ich wollte für Euch lediglich die astrologischen
Tabellen ausarbeiten, denn das vermag ich auch ohne Seher. Ich wusste
ja nicht, dass Hannah heute dabei sein würde.«
»Wenn sie für Euch in den Spiegel schauen würde, was könnten
wir dann sehen?«
Er hob die Schultern. »Alles. Nichts. Wie soll ich das wissen?
Doch vielleicht können wir das Geburtsdatum des Babys voraussagen. Wir
könnten vorhersehen, ob es ein Knabe wird oder ein Mädchen und ob es
gesund ist und was die Zukunft für es bereithält.«
Elisabeth kam mit leuchtenden Augen auf mich zu. »Tue es für
mich, Hannah«, flüsterte sie fast flehend. »Wir wollen es doch alle
wissen. Du ebenso wie jeder.«
Ich sagte nichts darauf. Dass ich wusste, wie die Königin in
ihrem düsteren Gemach langsam verzweifelte, wollte ich ihrer koketten
Halbschwester nicht mitteilen.
»Ich wage es nicht«, sagte ich schließlich dumpf. »Mr. Dee,
ich habe Angst. Dies ist verbotenes Terrain.«
»Heutzutage ist alles verboten«, erwiderte er schlicht. »In
dieser Welt sind zwei verschiedene Geistesströmungen vorhanden: In der
einen werden Fragen gestellt und Antworten gefordert, in der anderen
heißt es, die Antworten seien uns längst gegeben worden. Die Dame
Elisabeth ist eine derjenigen, die Fragen stellen, die Königin hingegen
glaubt, dass alles bereits bekannt sei. Ich gehöre zu der Welt der
Fragensteller – du auch. Und Lord Robert ebenfalls. Fragen zu
stellen, ist wie der Atem des Lebens, doch eine Antwort zu akzeptieren,
die mit dem Staub des Grabes daherkommt, ist wie der Tod –
wenn man noch nicht einmal ›Warum?‹ fragen darf. Du stellst doch gern
Fragen, nicht wahr, Hannah?«
»Ich bin dazu erzogen worden«, antwortete ich, als müsse ich
mich für eine Sünde entschuldigen. »Doch ich habe erfahren, welchen
Preis Gelehrte mitunter dafür bezahlen müssen.«
»Du wirst keinen Preis bezahlen müssen, wenn du in meinen
Gemächern Fragen stellst«, versicherte mir Elisabeth. »Ich stehe unter
dem Schutz des Königs. Wir können tun, was uns beliebt. Hier bist du in
Sicherheit.«
»Niemals!«, brach es aus mir heraus.
»Komm, Kind«, drängte John Dee. »Du bist doch unter Freunden.
Hast du nicht den Mut, deine von Gott geschenkte Gabe zu gebrauchen,
wenn dein Schöpfer und deine guten Freunde dir dabei zusehen?«
»Nein«, erwiderte ich. Vor meinem inneren Auge standen die
Scheiterhaufen auf den Marktplätzen in Aragón und die auf dem
Smithfield-Platz. Ich dachte an die Inquisitoren, die nur das sehen
wollten, was ihren Verdacht bestätigte.
»Und doch lebst du hier, inmitten des englischen Hofes«,
bemerkte er.
»Ich bin hier, weil ich der Königin diene, weil ich sie liebe
und weil ich sie jetzt nicht verlassen kann, wo sie so sehnsüchtig auf
die Geburt des Babys wartet. Und ich diene der Prinzessin Elisabeth,
weil … weil sie keiner anderen Frau gleicht, die ich kenne.«
Elisabeth lachte. »Du studierst mich, als
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