Die Hofnärrin
der
Stelle wiederfand, wo wir uns gestritten hatten. Daniel war
verschwunden, ich hatte auch nicht erwartet, dass er wie angewurzelt
auf der Stelle stehen geblieben war. Bestimmt war er ganz normal zum
Abendessen heimgegangen und hatte sich bemüht, der Familie so gelassen
zu erscheinen wie immer. Vielleicht war er auch zum Essen zu dieser
anderen Frau, der Mutter seines Kindes, gegangen, wie er es zwei Mal
pro Woche getan hatte, während ich am Fenster stand und nach ihm
Ausschau hielt und ihn bedauerte, weil er so lange arbeiten musste.
Meine Füße in den albernen hochhackigen Mädchenschuhen, die
ich seit einiger Zeit tragen mussten, schmerzten von dem Gewaltmarsch
auf dem Festungswall. Ich humpelte die schmale, in Stein gehauene
Treppe zum Ausfalltor hinunter und trat durch das kleine Tor an den
Kai. Eine Handvoll Fischerboote lag zum Auslaufen in der abendlichen
Flut bereit, und einer der vielen Kleinhändler, die regelmäßig zwischen
England und Frankreich hin- und herfuhren, belud seinen Kahn mit
allerlei Dingen: einem Wagen voller Haushaltsgegenstände einer Familie,
die nach England zurückkehrte; Weinfässer für Londoner Weinhändler;
Körbe voller Spätpfirsiche; Frühpflaumen und Korinthen und große Ballen
Tuch. Eine Frau nahm am Kai Abschied von ihrer Tochter, sie umarmte das
Mädchen und zog seine Kapuze über seinen Kopf, als wollte sie es bis zu
seiner Rückkehr warm halten. Das Mädchen musste sich förmlich
losreißen, dann rannte es die Planke hinauf an Bord, beugte sich über
die Reling, küsste seine Hand und winkte. Vielleicht ging dieses
Mädchen als Dienstmagd nach England, vielleicht verließ es sein
Zuhause, um zu heiraten. Voller Selbstmitleid dachte ich daran, dass
ich nicht mit dem Segen einer Mutter in die Welt entlassen worden war.
Niemand hatte meine Heirat geplant und dabei meine Vorlieben
berücksichtigt. Mein Ehemann war von der Ehestifterin allein danach
ausgesucht worden, ob er meinem Vater und mir ein sicheres Heim geben
konnte und seiner Mutter einen Enkel. Doch für uns konnte es kein
sicheres Heim geben, und Daniels Mutter hatte bereits einen Enkel von
fünf Monaten.
Einen Moment lang drängte es mich, zum Kapitän zu laufen und
zu fragen, wie viel die Überfahrt kostete. Wenn er mir das Geld
stundete, konnte ich ihn nach der Rückkehr in London bezahlen. Wie ein
Messer bohrte in meinen Eingeweiden die Sehnsucht, zu Lord Robert
zurückzukehren, zur Königin, zum Hofe, wo viele mich schätzten und wo
mich niemand jemals betrügen oder verachten könnte, wo ich meine eigene
Herrin war. Sicher, ich war nur Hofnärrin gewesen: eine Bedienstete von
niedrigerem Range als die Hofdamen, weniger als ein Musiker, am ehesten
vielleicht einem Lieblingsschoßhund vergleichbar – doch selbst
in dieser untergeordneten Position war ich freier und stolzer gewesen
als heute. Nun stand ich am Kai von Calais ohne einen Pfennig in der
Tasche, ohne eine andere Zuflucht als Daniels Haus und mit dem Wissen,
dass er mich betrogen hatte und es wieder tun könnte.
Als ich über die Schwelle unseres Hauses
trat, war es fast Nacht geworden. Daniel legte sich gerade sein Cape
um, und auch mein Vater war ausgehfertig.
»Hannah!«, rief er. Daniel durchquerte mit zwei Schritten den
Laden und schloss mich in die Arme. Ich ließ es zu, blickte jedoch an
ihm vorbei zu meinem Vater.
»Wir wollten dich gerade suchen gehen. Du kommst so spät!«,
rief mein Vater.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nicht geglaubt, dass
Ihr Euch Sorgen um mich macht.«
»Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht.« Daniels Mutter kam
ein Stück die Treppe herunter und beugte sich scheltend über das
Geländer. »Eine junge Dame darf in der Dämmerung nicht allein in der
Stadt umherlaufen. Du hättest sofort nach Hause kommen sollen!«
Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts.
»Es tut mir leid«, flüsterte Daniel in mein Ohr. »Lass uns
reden, bitte. Sei nicht so unglücklich, Hannah.«
Ich schaute zu ihm auf. Sein dunkles Gesicht war vor Sorge
verzerrt.
»Geht es dir gut?«, fragte mein Vater.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Natürlich geht es mir gut.«
Daniel legte den Umhang ab. »Du sagst ›natürlich‹«, klagte er.
»Doch diese Stadt steckt voller roher Soldaten, und du trägst jetzt die
Kleider einer Frau, du stehst nicht mehr unter dem Schutz der Königin
und kennst dich nicht mal in der Stadt aus.«
Ich entwand mich seinen Armen und zog einen Schemel unter der
Ladentheke
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