Die Holzhammer-Methode
er ausgerechnet hier unentdeckt blieb? Ausgerechnet hier, wo jeder jeden kannte? Christine wusste, dass man viel weniger in andere Menschen hineinsehen konnte, als ihre Branche dies gern glauben machte. Selbst die gewieftesten Profis konnten anderen Menschen nicht wirklich ins Hirn sehen. Und das war ja im Grunde auch gut so. Außer vielleicht, wenn man es gerade mit einem untreuen Ehemann oder einem Giftmörder zu tun hatte. Gedankenverloren griff Christine nach der Strickarbeit in pastellfarbenen Tönen, die Mathilde so sorgfältig über die Stuhllehne gelegt hatte. Wahrscheinlich hatte das ein Pullover für ihre kranke Tochter werden sollen. In dem Moment wurde die Tür geräuschvoll geöffnet, und Holzhammer stapfte herein: «Und?»
«Da ist es drin.» Christine deutete auf den Kühlschrank.
Holzhammers besorgtes Gesicht entspannte sich ein wenig. Er nahm einen Plastikbeutel aus der Tasche seiner grünen Uniformjacke, öffnete die Kühlschranktür und griff das Glas.
«Du, ich würde gern ein bisschen ausführlicher mit dir über die Sache reden», sagte er. «Was du als Psychologin denkst. Aber erst muss ich noch auf dem Revier was regeln.»
«Sicher, gerne. Ich glaub zwar nicht, dass ich viel helfen kann, aber mich interessiert die Sache ja auch brennend. Wie wär’s heute Abend bei Manu? Da wollte ich sowieso vorbeischauen, mit dem Matthias. Der kann doch mit?»
«Ja, ist recht. Der tratscht nicht.» Der Hauptwachtmeister hielt große Stücke auf Matthias mit seiner ruhigen Art. Nur das mit dem Buddhismus hatte er nie so recht verstanden.
«Also um halb neun?»
«Ist recht. Bis dann.»
Christine wusste gar nicht genau, warum sie das mit Matthias gesagt hatte, ohne ihn vorher zu fragen. Aber als sie ihn anrief, sagte er sofort zu.
Die Gestalt stand an der tiefsten Stelle der feuchten Alm. In der Senke gab es eine Wasserpfütze, aus der die Kühe gern tranken. Es roch nach Dung, der nahe Wald spendete Schatten. Ein ideales Biotop für den blauen Eisenhut. Die Bergschuhe quietschten im Matsch, an den Händen schützten gelbe Gummihandschuhe. Es war mühsam, die Wurzeln mit dem kleinen Klappspaten auszugraben, aber es musste sein, denn die Wurzeln enthielten am meisten Gift.
Da hatte Holzhammer also die Gläser eingesammelt. Nun gut. Das war nur ein kleiner Rückschlag. Hatte der dicke Polizist geglaubt, er könne unbemerkt alles zunichtemachen? Mit eingeschaltetem Blaulicht war er viel zu knapp an dem alten Fahrrad vorbei zum See gerast. Das Fahrrad war zwar langsamer, aber es hatte gereicht, um gerade noch zu sehen, wie er das Plastiksackerl aus dem letzten Geschäft ins Auto warf.
Ein Schwur, den man an einem Grab leistete, musste unter allen Umständen eingehalten werden. Es galt, weiterzumachen, bis zum Schluss. Wer sagte denn, dass man sich auf die Gläser mit Resis Brotaufstrich beschränken musste? Die hatten sich zwar angeboten, weil ihr Inhalt so grausig schmeckte, dass eine kleine Veränderung kaum auffiel – zumal die Touristen sowieso nicht wussten, was sie zu erwarten hatten. Aber der im Tal hergestellte Enzian würde es auch tun. Oder noch besser der Meisterwurz. Hier würde es allerdings viel schwieriger sein, die Flaschen unauffällig zu öffnen und wieder zu verschließen. Schnaps bot sich an, weil Aconitin in Alkohol löslich war. Es ließ sich jedoch auch zu Kristallen ausfällen, sodass die diversen Salzprodukte, die es in der Saline zu kaufen gab, ebenfalls in Frage kamen. Wichtig war nur, dass das Gift einem einheimischen Produkt beigemengt wurde. Die Leute sollten in jedem Fall einen Zusammenhang herstellen zwischen Berchtesgaden und dem Tod. Aus diesem Grund war auch der Eisenhut als Gift ideal, denn hier traten die Vergiftungserscheinungen schon nach kürzester Zeit ein. Amanitin, das Gift aus dem Knollenblätterpilz, war zwar auch ein todsicheres Gift, aber die Latenzzeit war viel zu lang. Das hatte der Versuch mit dem Gleitschirmflieger gezeigt, der nach dem giftigen Frühstück noch stundenlang Seilbahn fahren und in der Luft herumfliegen konnte.
Doch auch Eisenhut hatte einen Nachteil: Er verlor durch Lagerung schnell seine tödliche Wirkung – deshalb hatte sie keinen Vorrat anlegen können. Deshalb mussten ständig frische Wurzeln her. Der nächste Schritt würde dann wieder im heimischen Keller stattfinden: der Kaltauszug mit Alkohol. Danach musste die Tinktur noch gereinigt und konzentriert werden. Der gesamte Vorgang dauerte mehrere Tage. Bis dahin ließe sich
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