Die Hornisse
abzusehen gewesen, daß sie es besonders weit bringen würde. Schließlich war sie neben vier Brüdern das einzige Mädchen einer nicht gerade begüterten Familie gewesen. Zudem hatte es ihrer Mutter ganz und gar nicht gefallen, daß sich ihre Tochter mit so gefährlichen Dingen wie Verbrechen auseinandersetzte. Für Judy Hammer war der Phi-Beta-Kappa-Schlüssel ein Triumph gewesen, und sie hatte ihn Seth zu ihrer Verlobung geschenkt. Er hatte ihn lange getragen, bis zu der Zeit, als er fett wurde und anfing, sie zu hassen. »Er sagte, er habe ihn verloren«, erklärte Hammer leise. In diesem Moment klingelte das Telefon.
Es tat West unendlich leid, ihre Vorgesetzte erneut stören zu müssen. Sie entschuldigte sich, während sie mit ihrem Dienstwagen, das Handy am Ohr, in Richtung Innenstadt jagte. Ein Krankenwagen und weitere Polizeifahrzeuge rasten mit Sirene und Blaulicht in Richtung Five Points, wo ein weiterer Mann brutal ermordet worden war, wieder jemand von außerhalb.
»Großer Gott.« Hammer atmete schwer und schloß die Augen. »Wo?« »Ich kann Sie abholen«, sagte West. »Nein, nein«, wehrte Hammer ab. »Sagen Sie mir nur, wo.«
»Cedar Street, hinter dem Stadion«, sagte West und fuhr mit hohem Tempo über eine gelbe Ampel. »Bei den leerstehenden Gebäuden dort. Nicht weit von dem Werk für Löt- und Schweißbedarf. Sie werden uns dort schon finden.«
Hammer griff nach den Schlüsseln, die auf einem Tisch neben der Haustür lagen. Sie nahm sich nicht die Zeit, ihr graues Kostüm und die Perlenkette auszuziehen. Brazil konnte es kaum fassen, als er die Nachricht über seinen Scanner hörte. Er war schnell am Tatort und stand nun unruhig außerhalb des Absperrbandes. Er war frustriert, weil man ihn nicht hineinließ. Wieder trug er ein T-Shirt und Jeans. Er begriff nicht, daß er von den Cops wie jeder andere sensationsgierige Reporter behandelt wurde. Erinnerten sie sich denn nicht an ihn, wie er in Uniform Nacht für Nacht mit ihnen unterwegs gewesen war, Tätlichkeiten geschlichtet und Verdächtige verfolgt hatte? West traf nur wenige Augenblicke vor Hammer ein. Beide bahnten sich ihren Weg durch das mit Büschen und Unkraut überwucherte Gelände zu einem schwarzen Lincoln Continental, der hier aufs Geratewohl weit ab der Cedar und First Street nahe einer Müllhalde abgestellt war. Im Hintergrund ragte gespenstisch die Silhouette der Schweißerei mit ihren unbeleuchteten Fenstern in den Himmel. Das Blaulicht der Polizei zuckte durch die Nacht. In der Ferne war das Heulen einer Sirene zu hören, die zu einem anderen Unglücksort in der Stadt eilte. Ein Zug der Norfolk Southern ratterte über die Gleise gleich nebenan. Der Zugführer sah erstarrt auf den Ort dieser neuerlichen Katastrophe herunter.
Wie jedesmal handelte es sich auch hier um einen Leihwagen. Die Fahrertür stand offen, das Warnsignal ertönte, und die Scheinwerfer brannten. Polizisten durchsuchten das Gelände. Leuchtraketen stiegen auf und Videokameras summten. Brazil sah, wie West und Hammer sich durch die Menge der Reporter arbeiteten, die nichts weiter zu sehen bekam. Brazil fixierte West so lange, bis sie ihn bemerkte, aber sie tat, als kenne sie ihn nicht. Anscheinend wollte sie ihn ausschließen. Es war, als seien sie sich nie begegnet, und ihre Gleichgültigkeit traf ihn wie ein Messerstich. Auch Hammer schien ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. Brazil sah ihnen nach und fühlte sich verraten. Die Frauen waren voll in Anspruch genommen und überreizt.
»Wir sind also sicher?« sagte Hammer zu West.
»Ja. Es ist wie in den anderen Fällen«, bestätigte West, während sie sich unter dem Absperrband hindurchbückten und sich dem eigentlichen Tatort näherten. »Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel. Die Handschrift ist identisch.«
Hammer holte tief Luft. Gequält sah sie zuerst auf den Wagen und dann daneben ins Dickicht, wo Dr. Odom auf den Knien seine Arbeit verrichtete. Im Schein der um ihn herum aufgestellten Lampen sah Hammer die Handschuhe des Gerichtsmediziners blutig schimmern. Sie blickte auf, als sie den Hubschrauber von Channel 3 hörte. Er schwebte über dem Tatort, und eine Kamera spulte Material für die Dreiundzwanzig-Uhr-Nachrichten ab. Bei den nächsten Schritten der beiden Frauen knirschte Glas unter ihren Füßen. Dr. Odom tastete gerade den zertrümmerten Schädel des Opfers ab. Der Mann trug einen dunkelblauen Ralph-Lauren-Anzug, ein weißes Hemd, an dem die Manschettenknöpfe fehlten, und eine
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