Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
früh und nicht zu spät«, fügte sie hinzu.
»Oh.« Sie starrte auf ihre Liste. »Ja. Mrs Randolph hat einen Tisch für drei um ein Uhr gebucht. Sie ist noch nicht hier«, erklärte sie. Eine bedeutungsschwangere Pause entstand, in der ein Schrei hätte zur Welt kommen können, wenn ich meiner verängstigten Lunge ihren Willen gelassen hätte. Ich trat vor.
»Sie könnten uns schon den Tisch zeigen«, schlug ich vor. »Mrs Randolph würde das sicher zu schätzen wissen.«
»Oh. Ja«, sagte sie. Sie drehte sich um und signalisierte einem Kellner. Er eilte herbei. »Daniel«, sagte sie, »würden Sie bitte diese Damen zu Nummer 22 führen, s’il vous plaît.«
»Oui, Mademoiselle«, antwortete der Kellner.
Mama riss die Augen auf. Sie wandte sich zu mir um, als wir dem Kellner folgten.
»Sie sprechen auch französisch?«
»Das gehört mit zur Show, Mama«, sagte ich.
Die Frauen und Männer, an denen wir vorbeikamen, schauten uns mit einem spöttischen Lächeln an. Eine Frau wirkte jedoch verstimmt und flüsterte ihrem Gegenüber etwas zu, der daraufhin laut lachte. Nummer 22 war ein Tisch ganz am Ende des Restaurants. Ich war mir sicher, dass Megan Hudson Randolph darum gebeten hatte, einen weniger auffälligen Platz zu bekommen, und deshalb kam sie auch später.
Der Kellner zog Mama den Stuhl heraus, und sie setzte sich. Dasselbe tat er dann für mich. Mama fuhr mit der Hand über das Tischtuch.
»Das ist gute Baumwolle«, sagte sie.
Ich musste lächeln.
»Bestimmt ist das ein sehr teures Restaurant, Mama. Die Kunden erwarten nur das Beste.«
Sie nickte und schaute auf, als der Hilfskellner ein Körbchen mit warmen französischen Brötchen auf unseren Tisch stellte. Ein weiterer Hilfskellner goss uns Wasser aus Evian-Flaschen ein. Mama beobachtete das alles mit den Augen eines Menschen, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Das teuerste Restaurant, in dem wir jemals
aßen, war Joe Mandel’s Beef and Ribs Diner, und auch das nicht sehr häufig.
Jetzt als ich hier war, wurde ich noch nervöser. Jedes Mal, wenn eine einzelne Frau das Restaurant betrat, spürte ich, wie schreckliche Panik in mir aufstieg. Obwohl wir saßen, warfen die Leute uns immer noch verstohlene Blicke zu. Ich stellte mir vor, dass jedes Tuscheln, jedes Lachen Mama und mir galt. Schließlich betrat eine Brünette in einem dunkelblauen Nadelstreifenkostüm das Lokal und wandte sich an die Empfangsdame. Ich sah, wie diese sich umdrehte und in unsere Richtung nickte. Da wünschte ich mir, ich könnte zusammenschrumpfen, dass ich in das kleine Versteck in meinem Gehirn hineinpasste, wo ich mich sicher fühlte und keine Angst hatte.
Mama studierte gerade die Speisekarte und beklagte sich über die französischen Ausdrücke.
»Wie sollen wir denn wissen, was das alles ist?«
»Mama«, sagte ich und nickte zum Eingang hin.
Sie drehte sich langsam um. Als die Frau, die meine Mutter sein könnte, näher kam, hielt ich die Luft an. Sie war etwa so groß wie ich, trug aber Stiefel mit hohen Absätzen. Ihre Frisur war modisch, das Haar endete gut zwei Zentimeter oberhalb des Nackens. Sie war schlank und zart gebaut. Ich fand sie sehr hübsch. Sofort stellte ich fest, dass wir die gleiche Augenfarbe und fast das gleiche Kinn hatten. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepresst, bis sie nur noch ein paar Schritte entfernt war. Als ihr Blick dann auf mir ruhte, zitterten ihre Mundwinkel und bildeten fast ein Lächeln, fast so als wollten sie, aber etwas Stärkeres hielt sie zurück.
Sie wandte sich an Mama.
»Mrs Arnold?«
»Ja«, sagte Mama.
Einen Augenblick lang nahmen die beiden Frauen den Anblick der anderen in sich auf. Zu Mamas Ehre sei gesagt, dass sie weder eingeschüchtert noch unsicher wirkte.
»Ich bin Megan Hudson Randolph«, sagte meine leibliche Mutter. Sie drehte sich zu mir um.
»Das ist Ihre Tochter, Rain«, sagte Mama. »Sag deiner richtigen Mama guten Tag, Schätzchen.«
»Hallo«, sagte ich. Mir war es in der Kehle so eng, dass es mich würgte.
Meine Mutter legte ihre juwelenbesetzte Handtasche auf den Tisch und wartete darauf, dass der Kellner ihr den Stuhl herauszog.
»Guten Tag, Mrs Randolph«, begrüßte er sie.
»Holen Sie mir bitte einen Wodka mit Soda und einer Scheibe Limette, Maurice«, befahl sie mit dem Tonfall eines Menschen, der dringend einen Drink benötigt. Sie schaute Mama an. »Möchten Sie auch etwas zu trinken bestellen, einen Wein vielleicht?«
»Wir haben Wasser«, sagte Mama
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