Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
stattliche Erscheinung. Ihr graues Haar war so geschnitten und gelegt, dass es ihr Gesicht umrahmte. Der hervorstechendste Gesichtszug war ihr energisches Kinn. Ich sah die Augen und die Nase meiner Mutter, aber die Lippen meiner Großmutter waren voller.
Die Falten in ihren Augenwinkeln waren tief, vielleicht, weil sie so blinzelte, als sie mich anschaute. Ansonsten hatte sie nicht viele Falten im Gesicht.Anscheinend trug sie nicht viel Make-up, wenn überhaupt.
Sie trug einen türkisgrünen Samtmorgenrock mit Goldtresse an Kragen und Ärmeln. Der Mantel reichte ihr bis zu den Fesseln. Ihre Füße steckten in Samtslippern, die zum Morgenmantel passten.
»Ich bin mir absolut sicher, dass du weißt, warum du hier bist«, fuhr sie fort. »Setz dich hin«, befahl sie und deutete auf den Sessel, in dem ich gesessen hatte. Ich tat rasch, was sie verlangte.
Sie ging zu dem Ledersofa hinüber und zog ihren Morgenmantel eng um sich, als sie sich hinsetzte. Sie lehnte sich zurück, ließ ihren rechten Arm auf der Sofalehne ruhen und starrte mich an. Ich sah, wie sich ihre Augen bewegten, mein Gesicht musterten, innehielten, weich wurden und dann wieder hart, als sie die Schultern hochzog.
»Megan sagt, du seist eine gute Schülerin. Ich hoffe, das ist nicht wieder eine ihrer Übertreibungen. Sie neigt dazu … Sie leidet unter Übertreibungssucht. Also?«
»Also was?«
»Bist du eine gute Schülerin?«
»Ja. Ich bin seit der siebten Klasse auf der Bestenliste.«
»Und was war vorher?«
»Da gab es keine Bestenliste«, erwiderte ich trocken.
Sie starrte mich an, ihre Mundwinkel entspannten sich einen Moment und erstarrten dann wieder.
»Wie du sicher verstehst, bin ich nicht dafür, dass du hier lebst. Ich habe Megan nie verhätschelt oder ihr Verhalten entschuldigt. Als sie schwanger war und man es sehen konnte, schickte ich sie weg. Niemand aus der Familie war bei ihr, als du geboren wurdest, und mein Mann kümmerte sich um die Arrangements«, erklärte sie streng.
»Möchten Sie, dass ich gehe?«, entgegnete ich.
»Sei nicht albern«, kommandierte sie. »Ich sagte, ich wäre nicht dafür, dass du hier wohnst, aber ich sagte nicht, dass du es nicht könntest. Unter den richtigen Bedingungen natürlich«, fügte sie rasch hinzu.
»Und die wären?«
»Erstens, wir geben niemandem gegenüber zu, wer du wirklich bist. In diesem Stadium wäre es unerträglich peinlich. Ich bin bekannt für mein philanthropisches Engagement. Ich gehöre den Komitees verschiedener Wohlfahrtsorganisationen an. Es wird als nicht ungewöhnlich betrachtet werden, jemanden wie dich aufzunehmen unter dem Deckmantel, etwas für die Notleidenden zu tun«, schlug sie vor. Ihre Stimme war tiefer und voller als die meiner Mutter, ihre Konsonanten und Vokale klangen wie bei jemandem, der für den Schauspielunterricht übt.
»Du musst mich immer als Mrs Hudson ansprechen, und wenn Megan hierher kommt, was kaum der Fall sein wird, nennst du sie Mrs Randolph. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, sagte ich. Meine Augen füllten sich mit Tränen und brannten.Wie würde sie sich fühlen, wenn niemand sich zu ihr bekennen würde.
»Gut.«
»Sie sagten erstens, also muss es auch ein zweitens geben«, sagte ich, nachdem ich meine Tränen heruntergeschluckt hatte. Die Wut in meiner Stimme verhehlte ich nicht. Sie wirkte jedoch eher amüsiert als aus der Fassung gebracht.
»Oh, es gibt noch ein zweitens und ein drittens. Zweitens … ich weiß, woher du kommst und wie du gelebt hast. Das alles musst du hinter dir lassen. Kein Rauchen, kein Chaos im Haus anrichten, nicht die Kleidung im Zimmer verstreuen, wie manche Teenager es heutzutage so gerne tun. Ich will nicht, dass das Telefon pausenlos klingelt, weil Jungen anrufen, die du gerade kennen gelernt hast, und du darfst niemanden ohne meine Genehmigung einladen. Und definitiv keine laute Musik!«
Sie hielt inne, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern, das sie auswendig gelernt hatte, und fuhr dann fort.
»Ich möchte, dass dein Aussehen ständig sauber und präsentabel ist. Ich bekomme oft wichtigen Besuch, und jetzt, wo du da bist, repräsentierst auch du mich. Ich hoffe, du hältst einen manierlichen Sprachstandard aufrecht, und in dem Augenblick, wo ich Hinweise auf Drogen oder Alkoholmissbrauch bemerke, werde ich dich bitten zu gehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Meine Familie ist arm, und wir lebten im Ghetto, aber ich kann richtig von falsch unterscheiden«, fuhr ich sie an.
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