Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
erlebt, nicht wahr? Gönn ihm auch eine Atempause wie den Männern zu Hause, die auf der Straße miteinander kämpfen. Du musst ihm nicht vergeben, sondern du musst ihn verstehen und dann weitermachen, Kind. Mach weiter.«
»Okay, Mama«, flüsterte ich. »Okay.«
Ich ging hinaus und schloss die Tür leise hinter mir.
Ich erinnere mich gar nicht an die Fahrt zurück zum Endfield Place. Irgendwie fand ich die U-Bahn-Station, fuhr mit dem Zug und ging danach durch die Straßen, aber die ganze Zeit suchte ich im Geiste Orte der Erinnerung an meine Kindheit auf. Mama hatte es gut geschafft, jeden von uns so lange wie möglich zu beschützen. Ich glaube, ich war schon sieben oder acht Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine dunkle Ahnung davon bekam, dass wir unter so verzweifelten Bedingungen lebten. Damals wusste ich nie, wann Ken aufhörte, Geld nach Hause zu bringen, oder wann er verschwendete, was wir hatten. Ich begriff nicht, wie viel zusätzliche Arbeit Mama leisten musste, damit wir wenigstens drei Mahlzeiten am Tage genießen konnten und etwas Warmes anzuziehen hatten. Ich habe nie etwas darüber gehört,
dass die Miete überfällig war oder der Strom abgestellt werden sollte.
Aber plötzlich öffneten sich mir die Augen, und alles, was sie hinter einer Mauer aus Lächeln und Liedern verborgen gehalten hatte, drang hervor. Es war, als hätte irgendjemand, eine große Macht gesagt: Von diesem Tag an wirst du die Wahrheit verstehen – du bist arm.
Mamas einfacher Traum richtete sich darauf, dieses Wort von mir fern zu halten.
War das nicht der gleiche Traum, den Boggs für Mary Margaret träumte?
Mama ging so weit, mich den Menschen zurückzugeben, die mich verkauft hatten. Jemand, der das nicht verstand, der nicht tagein, tagaus dort gewesen war und ihren Kampf, ihre Tränen und Schmerzen beobachtet hatte, konnte sie ebenso leicht verdammen, wie ich Boggs verurteilte.
Warum fiel es mir so schwer zu entscheiden, was richtig und was falsch war? Sollte ich viel Zeit damit verbringen, das zu entscheiden, oder sollte ich die Laissez-faire-Einstellung übernehmen, die joie de vivre, wie Leslie und Catherine und einfach leben, einfach glücklich sein, einfach jeden Tag nehmen, wie er kam, und aufhören, mir solche Sorgen zu machen?
Geh und sprich für die Aufführung vor. Hab Erfolg und pack jede Gelegenheit beim Schopf, Rain, befahl ich mir selbst.
Pack die Gelegenheit beim Schopfe.
Mit mehr Energie, als ich gehabt hatte, seit ich
Mary Margarets Wohnung verlassen hatte, stürmte ich die Auffahrt zur Haustür des Endfield Place hoch. Ich werde meine Arbeit tun und ich werde mich amüsieren, schwor ich mir. Ob es mir gefällt oder nicht, ich werde mich amüsieren.
Im Haus war es natürlich still, als ich es betrat. Ich erwartete, dass alle schliefen, aber ich hörte jemanden in der Küche und ging hinein, um zu sehen, wer es war. Es war Leo, der sich ein Sandwich und eine Tasse Tee zubereitete.
»Oh, Miss Rain«, sagte er lächelnd. »Ich bin froh, dass ich Sie erwische, bevor Sie schlafen gehen. Heute Abend kamen zwei Anrufe für Sie, und ich habe Ihnen Nachrichten notiert«, sagte er, griff in seine Jackentasche und holte einen Zettel heraus. »Die erste stammt von einem Mr Ward.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte, er wollte Ihnen mitteilen, dass er Leanna alles erzählt hat und dass Sie ihn so bald wie möglich anrufen sollen.«
»Oh«, sagte ich und fragte mich, wie seine Frau wohl auf solch eine Enthüllung reagiert hatte.Vielleicht wollte er mir sagen, dass ich mich jetzt von ihnen fern halten sollte.
»Sie sagten, Sie hätten zwei Nachrichten für mich?«
»Ja, die zweite war von jemandem namens Roy.«
»Roy! Oh, das ist mein … mein Bruder.Was hat er gesagt?«
»Er sagte, dass er morgen in London sei und etwa um vier Uhr nachmittags vorbeikommen wolle. Das war alles«, sagte Leo.
»Das ist in Ordnung. Das ist prima«, versicherte ich ihm und eilte davon. Diese Worte hatten mir genau im richtigen Moment einen Zauberumhang des Trostes um die Schultern gelegt.
Ich konnte es nicht abwarten, ihn zu sehen, ihm die Arme um den Hals zu werfen und ihm alles zu erzählen.
Fast alles.
Es gab Dinge, die ich in meinem Herzen unter Verschluss halten musste.
Viel später, nachdem ich eingeschlafen war, wachte ich von Boggs’ schweren Schritten auf dem Flur auf. Er war zurückgekehrt. Seine Arbeit hielt ihn nachts von seiner Familie fern, wurde mir plötzlich klar. Nur selten konnte er dort
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