Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
nicht davon erzählt hätte, hätte ich gar nicht gewusst, dass es überhaupt existierte.Wie seltsam, dachte ich.War es etwas typisch Englisches, die engsten Familienmitglieder, die tot waren, zu verstecken?
Ich musste viel über dieses Haus und seine Bewohner lernen, und zwar rasch.
Mein Schlafzimmer war kaum größer als Großmutter Hudsons begehbarer Kleiderschrank. Ich hatte ein quietschendes, ächzendes Eisenbett mit einer so dünnen Matratze, dass mir mein Bett in Großmutter Hudsons Haus weich wie eine Wolke vorkam. Vor dem schmalen Fenster hing eine ausgeblichene
gelbe Jalousie, der Boden aus unbedecktem Hartholz war so feucht und dunkel und stark gemasert, dass es sich durchaus um den Originalboden des Hauses handeln konnte. Leo stellte meine Koffer mit einem Seufzer der Erleichterung ab, hinkte sofort davon und ließ uns allein. An der Wand zu meiner Rechten stand ein Mahagonischrank, der mir als einziger Kleiderschrank diente. Daneben befand sich eine kleine Kommode mit flachen Schubladen. Das ganze Zimmer stank nach Mottenkugeln.
»Können wir das Fenster aufmachen?«, fragte ich Mary Margaret.
Sie starrte es an und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Habe ich noch nie gemacht.«
Ich ging hin und kämpfte mit dem verrosteten Schloss, bis ich es geöffnet hatte. Dann versuchte ich, das Fenster mit den Handballen nach oben zu schieben. Es rührte sich nicht.
»Ich bekomme hier drin ja gar keine Luft«, beschwerte ich mich, während ich mich umschaute.
»Ich hole Boggs«, sagte sie und ging hinaus, bevor ich ihr sagen konnte, dass ich mich lieber selbst damit abquälen wollte. Ich versuchte es noch einmal, aber es knirschte nicht einmal. Vermutlich war es schon seit hundert Jahren fest verschlossen.
Ich legte meine Koffer auf das Bett und öffnete sie, um meine Kleidung herauszuholen und einiges davon in den Kleiderschrank zu hängen.Wenige Augenblicke später tauchte Boggs auf. Er hielt einen
Moment inne, um mich anzuschauen, und ging dann direkt zum Fenster. Mit geschlossener Faust hämmerte er gegen den Rahmen. Dann legte er seine Handballen dagegen und schob es hoch. Ächzend ging das Fenster in die Höhe.
»Ich tue später etwas Öl drauf«, murmelte er verärgert. »Beeilt euch jetzt«, sagte er, als er ging.
Ich schaute Mary Margaret an.
»Das war doch nicht das Zimmer, in dem Sir Godfrey Rogers’ Geliebte gestorben ist, oder?«, fragte ich halb im Scherz.
Sie wurde noch ein wenig blasser, war fast weiß wie Schnee.
»Wer hat dir das gesagt?«
»Ist es das?«, fragte ich energischer.
»Niemand soll darüber reden«, erwiderte sie.
Sie ging hinaus und kehrte kurz darauf mit einer gefalteten Uniform über dem Arm zurück. Ohne ein Wort legte sie sie aufs Bett. Ich faltete sie auseinander und hielt sie gegen mich. Sie entsprach ungefähr meiner Größe.
»Das Klo ist den Gang hinunter«, sagte sie.
»Das was?«
»Das Klo.« Sie überlegte einen Augenblick. »Die Toilette.«
»Ach, du meinst das Badezimmer. Okay, danke«, sagte ich. »Ich würde mir gern das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich fliegen.«
Sie lächelte nicht.
»Beeil dich«, riet sie mir. »Mr Boggs wartet auf uns.«
»Genau«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht, dass er sich die Beine in den Bauch steht«, murmelte ich.
Sie legte den Kopf schief, als hätte ich etwas gesagt, das völlig über ihr Verständnis ging. Ich schüttelte nur den Kopf und steuerte das, was sie Klo genannt hatte, an. Das Badezimmer war nichts Besonderes. Es gab keine Dusche, nur eine Badewanne, ein Waschbecken und eine Toilette. Über dem Becken hing ein kleiner Spiegel. Offensichtlich war jeder Teil des Hauses modernisiert worden – außer den Dienstbotenquartieren. Sie sollten sich besser nicht darüber beklagen, dass die Amerikaner klassenbewusst und voller Vorurteile sind, dachte ich.
Ich zog die Uniform an und folgte Mary Margaret dann zurück ins Vorderhaus, wo Boggs auf uns wartete. Er musterte mich von Kopf bis Fuß.
»Steck dein Haar zurück«, befahl er. Er schaute Mary Margaret an. »Warum hast du ihr das nicht gesagt?«
Sie wirkte nervös und verängstigt. »Sie hatte keine Zeit dazu«, sagte ich. »Sie hatte Angst, Sie länger warten zu lassen.«
»Ich rede nicht mit dir, oder?«, fragte er mich mit wütendem Blick. »Ich rede mit ihr.«
Mary Margaret senkte den Blick und ließ schnell den Kopf hängen. Ich holte tief Luft,
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