Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
und ging weiter den Flur hinunter, »ist unser Speisezimmer.«
Wieder stand ich da wie jemand in einem Museum, der an einer Führung teilnimmt und dem kostbare Antiquitäten gezeigt werden, die man nur anschauen, aber niemals berühren darf. Ich hatte das Gefühl, als befände sich eine unsichtbare Samtschnur zwischen mir und jedem Möbelstück, jedem Kunstwerk, jeder Statue. Großtante Leonora war so beschlagen wie ein Museumsführer.
»Unser Speisezimmer ist um einen Kamin herum erbaut worden, der inspiriert wurde von einem Kamin, der aus Brighton in den Buckingham Palace gebracht wurde. Die Tapete wurde mit einem Dekor bemalt, das auf ein Muster aus dem achtzehnten Jahrhundert zurückgeht. Unsere Speisezimmerstühle sind bezogen mit einem Stoff von Bertram and Fils. Sie sind heutzutage der letzte Schrei. Dieser Kronleuchter«, sie deutete mit einem Kopfnicken auf einen Lüster aus Kristall und grünem Glas, »stammt aus Russland. Kürzlich haben wir hier Glastüren einbauen lassen, damit wir die Frühlings- und Sommerluft genießen können, während wir speisen.«
Die Türen führten zum Garten, der in voller Blüte stand.
Sie zeigte mir das so genannte Empfangszimmer und teilte mir mit, dass der bessarabische Teppich mehrere tausend Pfund wert sei. Dort stand ein Stutzflügel mit aufgeschlagenen Noten, als hätte gerade jemand gespielt. Alle Möbel waren dunkel gehalten und der Raum selbst wirkte so unbenutzt und unberührt wie ein Schaufenster in einem Möbelgeschäft.
Von der Bibliothek war ich wirklich beeindruckt. Sie war ebenso wie die anderen Zimmer voll gestopft mit Kunst und wertvoll aussehenden Objekten, aber sie war auch im wahrsten Sinne randvoll mit Büchern auf eingebauten Bücherregalen an allen Wänden. Die Regale reichten bis zur Decke; es gab eine Leiter, die man entlangschieben konnte, um so Zugang zu jedem Buch zu bekommen.
»Richard ist sehr stolz auf seine Sammlung seltener Bücher«, sagte Großtante Leonora. »Das meiste, was Sie hier sehen, sind Erstausgaben, manche aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Er besitzt Originalausgaben von Dickens, Thackeray, Samuel Johnson, George Eliot. Nennen Sie einen Autor, Richard hat bestimmt etwas von ihr oder ihm«, fügte sie mit einem winzigen Lachen hinzu, das sich eher wie das Klingeln kleiner Glöckchen anhörte.
Die Fenster der Bibliothek zierten ebenfalls Seidenvorhänge. Dort stand auch ein Samtsofa mit einem passenden Sessel. Am entgegengesetzten Ende
prunkte ein großer Eichenschreibtisch. Darauf war alles wohl geordnet. Alles Holz, das zu sehen war, glänzte frisch poliert.
»Hier ist der einzige sexistische Teil unseres Hauses«, verkündete Großtante Leonora, als sie das nächste Zimmer präsentierte, in dem ein großer Poolbillardtisch stand. »Dieses Billardzimmer ist wirklich nur für Männer. Aber wer will denn schon da herauskommen und wie eine Tabakpflanze stinken?«
Wir spähten ein paar Sekunden hinein, aber das reichte, damit mir der Geruch von kürzlich gerauchten Zigarren in die Nase stieg.
Während wir durchs Haus gingen und in jedes Zimmer hineinschauten, fragte ich mich, wie jemand, der so klein und zerbrechlich war wie Mary Margaret, das alles in Ordnung halten konnte. Was für ein Tummelplatz für Staub, dachte ich, mit all diesen Kunstwerken, Statuetten, Glasfiguren und Zinnsachen.
Während dieser Tour zogen Leo mit meinen Koffern und Mary Margaret hinter uns her. Boggs blieb im Flur wie ein Wachtposten stehen. Plötzlich wirbelte Großtante Leonora herum und klatschte in die Hände.
»Ich habe beschlossen, Ihnen auch oben einiges zu zeigen.Alle anderen können hier warten«, verkündete sie. Ich warf Mary Margaret einen Blick zu, aber sie schaute mich nicht direkt an. Ihr Blick wich aus, so dass sie auf die nackte Wand zwischen zwei Ölgemälden mit Landschaftsszenen schaute.
Ich folgte Großtante Leonora die Treppe hinauf. An der Doppeltür zum Schlafzimmer von ihr und ihrem Mann blieb sie stehen.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie plötzlich und zögerte, die Tür zu öffnen. Ich zog die Augenbrauen hoch. Sie wusste, was ich dachte? Hoffentlich nicht. »Sie finden unsere Zimmer so klein im Vergleich zum Haus meiner Schwester. Bei Amerikanern ist immer alles größer«, fuhr sie fort. Wieder sprach sie von Amerikanern wie von Ausländern, obwohl sie doch selbst Amerikanerin war. »Diese älteren Häuser sind nicht so gebaut. Hier mussten wir unter anderem daran denken, wie wir sie heizten und
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