Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
war sie nicht weiter als drei oder vier Meter von mir entfernt. Ich hielt den Kopf gesenkt, schaute aber schnell hoch, als sie ganz nahe war. Ihr Gesicht war wirklich eckig und interessant mit mandelförmigen Augen und winzigen Sommersprossen auf den Wangen. Sie hatte einen weichen, vollkommenen Mund, der sich zu einem sanften, freundlichen Lächeln entspannte, als unsere Blicke sich trafen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Mir fuhr es kalt wie ein Elektroschock in den Magen, weil ich mich fühlte wie jemand, der beim Spionieren erwischt worden ist.
Diesmal trug sie einen dunkelgrauen Pullover und einen langen fließenden Rock. Auf mich wirkte sie nicht älter als ein Collegegirl im ersten oder zweiten Jahr. Ihr kleiner Junge hielt sie fest an der Hand, hielt den Kopf aber gesenkt, als zählte er die Risse auf dem Bürgersteig. Binnen Sekunden war alles vorbei, aber mein Herz klopfte.
Meinen Vater sah ich die ganze Woche nicht. Entweder war ich zu den falschen Zeiten da, um ihn zu erwischen, oder er war weg. Es war frustrierend. Ich
sagte mir, dass ich mich selbst nur quälte, indem ich dorthin ging. Warum jemanden anschauen, der nie das sein konnte, was du dir wünschtest? Ich kam mir vor wie ein ganz armes Mädchen, das vor den Schaufenstern eines teuren Warenhauses stand und sich dort Dinge anschaute, die es nie hoffen konnte zu besitzen.War es nicht besser, so zu tun, als gäbe es das Geschäft gar nicht, einfach vorbeizugehen und nicht hineinzuschauen?
Ich erinnerte mich, dass dies der Grund war, warum Roy nie gerne in die schickeren Stadtviertel von Washington ging. Er schlug lieber einen großen Bogen darum, machte einen Umweg und fuhr länger als nötig.
»Aber ist es denn nicht nett, sich etwas Schönes anzuschauen?«, fragte ich ihn dann.
»Ich will mir keine Sachen anschauen, die ich nicht haben kann«, erwiderte er darauf. »Das macht mich nur bitter und unglücklich. Ich habe genug Grund, ständig wütend zu sein. Da muss ich nicht noch nach weiteren suchen«, sagte er.
Aber wenn ich wirklich dorthin wollte, nahm er mich mit. Es gab nicht viel an Qual und Frust, das Roy nicht meinetwegen auf sich nahm, wenn es darum ging, mich glücklich zu machen.
Was würde er von all dem sagen oder denken? Ich fragte mich, ob ich es ihm je erzählen würde.
Randall ließ beim Thema Larry Ward nicht locker. Eines der ersten Dinge, die er am Tag nach der Aufführung sagte, war: »Zu blöd, dass wir deinen Vater
nicht eingeladen haben.Wir hätten ihm einfach eine Einladung schicken sollen.Vielleicht wäre er gekommen«, sagte er.
»Bestimmt bekommt er viele solcher Einladungen. Es muss doch langweilig für ihn sein, jede Amateuraufführung irgendeines Shakespeare-Stückes zu besuchen.«
»Nicht wenn er einen besonderen Grund gehabt hätte zu kommen«, neckte Randall mich.
»Das werden wir nicht tun, Randall«, sagte ich und schaute ihn so hitzig an, dass ich sein Gesicht mit einem weiteren Blick hätte versengen können.
»Ich weiß, ich weiß, aber es wäre keine schlechte Möglichkeit gewesen, das Eis zu brechen«, beharrte er.
»Ich will das Eis nicht brechen. Das habe ich dir doch gesagt. Jetzt hör auf, darüber zu reden, oder ich spreche nicht mehr mit dir«, drohte ich. »Das ist mein Ernst.«
»Okay, okay«, lenkte er ein. Dann lächelte er, schaute zu Boden und meinte: »Ich frage mich, wie seine Vorlesungen wohl sind.«
»Auf Wiedersehen, Randall«, fauchte ich ihn an und ging davon. Er lachte, folgte mir und schwor, dass er nicht mehr über Larry Ward reden werde. Natürlich glaubte ich ihm nicht.
Allmählich merkte ich, dass Randall etwas Unreifes an sich hatte. All dieses Theater um meinen leiblichen Vater war aufregend für ihn, aber auf die gleiche Weise wie ein neues Spiel. Das wurde mir erst
klar, als ich herausfand, dass er es Leslie und Catherine erzählt hatte. Ich saß allein in der kleinen Cafeteria und trank eine Tasse Kaffee, als sie hereinkamen und schnell auf meinen Tisch zusteuerten.
»Oh, chérie« , sagte Leslie, »wir haben von deiner verblüffenden Entdeckung gehört, aber deshalb brauchst du keine Angst zu haben. Du musst bumm, bumm direkt zu ihm gehen und dich erklären.«
»Welche Entdeckung?«, fragte ich, während mein Herz einen Salto schlug.
»Dein Vater natürlich«, sagte Catherine. »Randall hat uns alles darüber erzählt.«
»Wirklich?«
»Aber natürlich«, sagte Leslie. »Er macht sich Sorgen um dich und meinte, vielleicht sollten wir mit
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