Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
trübselig. Ich stöhnte und stützte mich auf meinen Ellenbogen, aber die Schmerzen in Armen und Hüften waren so groß, dass ich aufschrie und auf dem Kissen zusammenbrach.
»Tante Victoria«, rief ich. »Tante Victoria!«
Ich wartete. Abgesehen vom Geräusch des Windes, der jetzt stärker blies, über Fenster und Wände fegte, hörte ich nichts.War sie überhaupt da? Mein Herz fing an zu klopfen, und mir wurde klar, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen und nicht einmal einen Schluck Wasser getrunken hatte. Meine Lippen fühlten sich an wie Sandpapier.
»Tante Victoria!«
Wie war es möglich, dass sie mich nicht hörte? Ich schrie jetzt so laut ich konnte.
»Bist du da?«
Die Eingangshalle war dunkel.Vermutlich ist sie nicht hier, dachte ich. Ich sah nach meinem Rollstuhl. Sie hatte ihn zu weit weg von meinem Bett abgestellt.Wenn ich hinein wollte, musste ich wieder kriechen. Aber schon der Gedanke an diese Strapaze erschöpfte mich wieder. Genauso gut könnte ich mich entschließen, den Mount Everest zu besteigen. Ich lag dort und versuchte zu überlegen, was ich tun könnte. Meine Kopfschmerzen fühlten sich an wie ein elektrisches Band, das sich von einer Schläfe rund um den Kopf herum zur anderen erstreckte wie eine elektrisch geladene Krone.
»Tante Victoria, bitte antworte mir, wenn du da bist«, bat ich, aber ich hörte nichts.
Vielleicht war sie in ihrem Arbeitszimmer und telefonierte und hörte mich deshalb nicht. Ich lauschte weiter aufmerksam, wartete auf ein Geräusch, das darauf hinwies, dass ich nicht allein im Haus war, aber das Schweigen dauerte an und wurde anscheinend sogar noch tiefer.
Ich rief immer wieder, stützte mich auf die Ellenbogen und schrie laut. Immer noch nichts.
Verzweifelt griff ich zu meinem Wecker. So gut ich konnte schleuderte ich ihn zur Tür hinaus auf den Flur, wo er die Wand traf und abprallte. Er machte viel Lärm.
Ich lauschte.
Schließlich hörte ich Schritte, aber sie waren so schleppend und hörten sich so schwach an, dass sie
eher klangen wie das Schlurfen eines alten Menschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dies Tante Victorias Schritte waren. Sie brauchte ewig, bis sie meine Tür erreichte, aber schließlich war sie da. Sie trug diesen hässlichen verblichenen rosa Morgenmantel und Männerpantoffeln aus Leder. Sie wirkte verwirrter und müder, als ich mich fühlte. Ihr Haar sah aus, als hätte ein Rudel Ratten es durchwühlt. Ihre Augenlider hingen schlaff herunter und ihre Augen waren so dunkel wie zwei Lachen voller Tinte. Ohne ihre übliche perfekte, wenn nicht steife Haltung machten ihre hängenden Schultern sie älter und dünner. Sie bewegte sich, als ob ihre Muskeln und Gelenke stärker schmerzten als meine, und einen Augenblick fragte ich mich, ob ihre Anstrengungen, mich von der Auffahrt zurück ins Haus zu schaffen, sie nicht doch erschöpft hatten.
»Was ist? Was ist los? Ich habe geschlafen«, murmelte sie.
»Ich möchte aufstehen«, sagte ich. »Ich brauche meinen Rollstuhl und ich möchte etwas zu essen und zu trinken. Ich bin völlig ausgetrocknet.«
Sie stand da und starrte mich an, als hätte sie kein Wort gehört.
»Tante Victoria, hast du mich gehört?«
»Rate mal, was heute Nachmittag mit der Post kam«, sagte sie, statt zu antworten.
Sie lächelte und steckte die Hand in die Seitentasche des voluminösen Morgenmantels, um eine
Postkarte herauszuziehen. Sie hielt sie hoch und wartete, als erwartete sie, dass ich danach griff.
»Von wem ist sie?«, fragte ich. War sie aus England oder von Roy?
»Von ihnen. Von wem denn sonst? Wer besäße die Frechheit, den Nerv, mir so eine Karte zu schicken? Ich lese die dir vor.«
»Tante Victoria...«
»Liebe Vikki«, begann sie und senkte dann die Karte, um mich anzuschauen. »Das macht sie manchmal gerne, nennt mich Vikki, als wären wir liebende Schwestern und sie dürfte meinen Spitznamen benutzen.
Sie weiß, dass ich Spitznamen hasse, schon immer. Ich habe nie zugelassen, dass mich in der Schule jemand Vikki nannte. Ich reagierte nicht darauf, aber sie stiftete sie dazu an.«
Sie begann erneut:
»Liebe Vikki, ich konnte nicht anders, sondern musste dir diese Karte schicken, damit du siehst, wie schön es hier ist. Uns geht es hier sehr gut. Es ist, als wären Grant und ich in den Flitterwochen. Wir lernen uns neu kennen und lieben. Ich hoffe, es geht dir gut. Herzliche Grüße, Megan.«
Sie senkte die Karte und steckte sie in die Tasche zurück.
»Herzliche
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