Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
Tür.
»Komm herein«, sagte ich, drehte mich um und wischte mir die Tränen vom Gesicht.
Die Tür ging auf, sie rollte herein und schloss die Tür hinter sich.
»Es tut mir so Leid, dass du an diesem Geburtstag so außer dir bist, Schätzchen. Bitte, sei nicht so verzweifelt«, bat sie.
Ich nickte, holte tief Luft und schaute sie an.
»Warum muss Harley so … so unglücklich sein?«, fragte ich sie.
Sie lächelte.
»Er ist nicht so sehr unglücklich, vielmehr hat er Angst«, sagte sie.
»Angst? Harley? Ich glaube nicht, dass er vor irgendetwas Angst hat. Das ist ja sein Problem.«
»Nein«, beharrte sie und kam näher zu meinem Bett, »ich weiß genau, wie er sich fühlt. Er hat Angst, weil er sich in einer Welt sieht, in die er seiner Meinung nach nicht hineingehört. Kannst du dir vorstellen, wie es für mich war, als Oberstufenschülerin hierher zu kommen, nachdem ich in Washington in einer Sozialwohnung gelebt hatte, im Ghetto, wo Drogen und Kriminalität so grassierten, dass du das Gefühl hattest, die Nachrichten im Fernsehen zu sehen, wenn du aus dem Fenster schautest.
Es ist leichter, wenn man jünger ist und die Gelegenheit hat, sich anzupassen, aber einfach in eine andere Welt geworfen zu werden mit wenig oder gar keiner Vorbereitung …«
»Warum hat deine Adoptivmutter das Geheimnis deiner Geburt so lange für sich behalten?«
»Oh, ich glaube, sie hoffte, ich würde es nie herausfinden, aber ihr Ehemann war ein Mann, der ständig in Schwierigkeiten geriet, seine Jobs verlor, keinerleiVerantwortungsbewusstsein zeigte, und das alles trat eines Tages zutage, als er betrunken einen tödlichen Verkehrsunfall verursachte. Ihr blieb keine Wahl. Ich weinte sehr, als ich herausfand, dass sie nicht meine leibliche Mutter war.«
»Ich würde sterben, wenn mir das passierte«, sagte ich. »Das tat ich beinahe auch, aber sie war eine eiserne kleine Lady. Nach Beneathas Tod war sie entschlossen, mich aus dieser Welt zu retten. Sie trat Großmutter Megan gegenüber und bestand darauf, dass sie die Verantwortung für mich übernahm, das heißt, mich zurücknahm. Natürlich war sie, wie du weißt, sehr, sehr krank. Aber es sah ihr ähnlich, das ebenfalls geheim zu halten. Sie wusste, dass ich sie nie verlassen hätte, wenn ich die Wahrheit gekannt hätte.«
»Es muss ihr das Herz gebrochen haben zu sehen, dass du bei jemand anderem lebtest.«
»Es hat uns beiden das Herz gebrochen, aber sie vergoss in meiner Gegenwart nie eine Träne. Bestimmt hat sie geweint, wenn sie allein war«, seufzte sie und wurde einen Augenblick lang ganz still.
»Auf jeden Fall«, fuhr sie fort, »war Großmutter Hudson, als ich herkam, alles andere als glücklich und zufrieden. Sie war eine Tyrannin mit all ihren Regeln und Drohungen, aber ich überraschte sie wohl. Ich war so
gut in der Schule und schockierte sie mit meinem guten Benehmen. Bald vertraute sie mir mehr als ihren eigenen Töchtern. Schließlich brauchte sie mich ebenso, wie ich sie brauchte. Deshalb war ihr Opfer auch so groß.«
»Welches Opfer?«
»Sie arrangierte, dass ich in England bei ihrer Schwester lebte, um eine renommierte Schule für darstellende Künste zu besuchen. Gerade als wir uns kennen und lieben gelernt hatten, ließ sie mich gehen. Ich sah sie zum letzten Mal, als sie sich auf unserer Vordertreppe von mir verabschiedete. Ich habe mich oft gefragt, ob sie länger gelebt hätte, wenn ich hier geblieben wäre.«
Sie schwieg einen Moment und lächelte dann.
»Aber wenn wir in der Vergangenheit verharren, sind wir ihre Gefangenen«, sagte sie. »Das Gute war, ich gewann Selbstvertrauen und mir wurde klar, wer ich wirklich war. Sie gab mir mehr als nur meinen Namen, sie gab mir meine Identität und Selbstwertgefühl.
Das muss bei Harley noch geschehen. Trotz all seiner zur Schau gestellten Großspurigkeit ist er ein sehr verängstigter junger Mann. Er weiß noch nicht, wo er hingehört.«
»Warum ist Onkel Roy so gemein zu ihm, Mommy?«
»Das ist eine andere Geschichte«, sagte sie.
»Bitte erzähl sie mir, Mommy.«
»Ich wünschte, du würdest heute einschlafen mit dem Kopf voller Zuckerwatte, Schätzchen.«
»Ich kann nicht. Bitte, erzähl es mir«, bettelte ich. »Ich bin doch kein Kind mehr.«
»Nein, das bist du wohl nicht.« Sie schaute einen Moment zu Boden, dann holte sie tief Luft und fing an.
»Vor Jahren, als Roy und ich entdeckten, dass wir gar keine Geschwister waren, gestand er mir seine Liebe. Er wollte, dass wir Mann
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