Die Hüter der Nacht
gleichen Grund in Israel bin wie Sie, was würden Sie dann sagen?«
»Dass ich es sehr bezweifele.«
»Hans Mundt«, sagte sie und verbarg noch immer eine Seite ihres Gesichts vor ihm. »Sohn von Karl Mundt, Wächter im größten der drei Arbeitslager der Nazis bei Lodz, Polen, bis zu seinem Tod. Sie waren Mitglied der Stasi, der ostdeutschen Geheimpolizei, die nach der Wiedervereinigung aufgelöst wurde. Was haben Sie seither mit Ihrer Zeit angefangen?«
»Warum fragen Sie nicht Abraham Vorsky? Ich meine, er war es, der Ihnen erzählt hat, wo Sie mich finden, nicht wahr?«
»Mit gutem Grund. Er dachte, Sie hätten Ihre Zeit damit verbracht, die Namen zu sammeln, die Sie ihm gestern Abend gegeben haben. Er dachte, dass ich Sie vielleicht kenne, dass Sie vielleicht für mich gearbeitet haben.«
»Für Sie gearbeitet?«
Die große Frau trat noch näher auf ihn zu und ließ ihn ein Stückchen von der bisher verborgenen Seite ihres Gesichts sehen. »Wissen Sie jetzt, wer ich bin, Herr Mundt?«
Mundt nickte. Nun hatte er keinen Zweifel mehr an ihrer Identität. »Sie sind eine Zeugin aus der Vergangenheit.«
»Ich halte mich lieber für jemand, der sich weigert, Zeugen der Vergangenheit zu verfolgen. Genau wie Sie. Und das ist der Grund, weshalb ich so sehr an Ihrer Arbeit interessiert bin.«
»Die betrifft Sie nicht.«
»Es betrifft mich, dass die Besitzer der zusätzlichen Namen, die Sie gestern Abend Vorsky auf der CD im Restaurant gegeben haben, nicht abgekratzt sind.«
Mundt bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen. Vorsky war mit der zweiten Gruppe von Namen nicht so leicht zu täuschen gewesen, wie er gedacht hatte. Und er, Mundt, hatte nicht damit gerechnet, dass diese Frau in die Sache verwickelt war. Vorsky konnte er täuschen, aber sie …
»Es sind alles Holocaust-Überlebende«, behauptete Mundt. »Genau wie die ersten drei Männer … die ersten drei Namen, die ich Vorsky gegeben habe.«
»Nicht nach meinen Informationen, Herr Mundt. Und meine Informationen sind äußerst genau.« Die Frau schob sich noch ein wenig näher. Schweißtropfen verschmierten ihr dickes Make-up und ließen ihr Gesicht fleckig wirken. »Sie wären längst tot, hätte Vorsky Ihnen nicht nur die Hälfte der Datei gegeben, die Sie haben wollten. Wir beide sind neugierig, was Ihr plötzliches Interesse an Paul Hessler betrifft.«
»Mein Handel mit Vorsky schließt Sie nicht ein, Fräulein.«
»Sie haben sich nicht an den Handel gehalten, Herr Mundt, als sie ihm Informationen übergeben haben, die falsch sind, wie Sie sehr genau wussten. Ich bin hier, um einen neuen Handel zustande zu bringen. Warum war der Zugang zu Paul Hesslers vertraulicher Datei so wichtig für Sie?« Die Frau legte eine Pause ein und hob die linke Augenbraue. Es gab keine Lücke in den Haaren, als wären sie mit einem Augenbrauenstift aufgemalt worden. »Es kommt mir seltsam vor, Herr Mundt, dass Paul Hessler im selben Arbeitslager interniert war, in dem Ihr Vater als Wächter tätig war. Karl Mundt, Mitglied der Waffen-SS. Anfang 1944 im Alter von zwanzig Jahren einem der drei Arbeitslager bei Lodz in Polen zugeteilt, in dem Jahr, in dem Sie geboren wurden. Laut Berichten und Zeugenaussagen wurde Ihr Vater von Paul Hessler erschossen, kurz vor Hesslers Flucht Ende 1944. Seine Leiche wurde nie gefunden.«
»Sie kennen meine Familiengeschichte ziemlich gut.«
»Ich bin noch nicht fertig. Paul Hessler wurde Tage später und Kilometer entfernt von einer Abteilung amerikanischer GIs im Wald nördlich von Lodz gefunden. Einer dieser GIs war der Schütze, der Hessler vor vier Tagen zu ermorden versuchte: Staff Sergeant Walter Phipps.«
»Das sagt mir nichts.«
»Sie kennen Staff Sergeant Walter Phipps nicht?«
»Ich habe den Mann nie gesehen.«
»Haben Sie jemals mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Interessant. Denn eine Woche, bevor er nach Israel flog, erhielt Walter Phipps einen Telefonanruf aus Deutschland. Wir verfolgten die Nummer zu einer Schule, die geschlossen hatte und deren Telefone monatelang nicht angeschlossen waren. Offenbar hat derjenige, der Staff Sergeant Phipps angerufen hat, diese Dinge zu manipulieren gewusst.« Die Frau drehte ihm genügend von ihrem Gesicht zu, dass Mundt das zerfurchte Gewebe auf der rechten Hälfte sehen konnte. »Was hat der versuchte Mord an Paul Hessler mit dem zu tun, das Sie nach Israel gebracht hat, Herr Mundt?«
»Soll das ein Verhör sein?«
»Beantworten Sie nur meine Frage. Weshalb Ihr Interesse
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