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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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war ständig besetzt. Also sitze ich hier, drücke meinen Stoffball zwischen den Fingern und wünsche mir, statt dessen dich zu streicheln …«
    Leslie spürte, wie ein wohliger Schauer sie durchrieselte, doch sie nahm sich zusammen. Heute hatte sie zu arbeiten. »Ich habe einen Patienten, der in Schwierigkeiten steckt, Simon.«
    »Als ich aufwachte und du fort warst«, meinte er seufzend, »habe ich mich schon gefragt, ob du nur ein schöner Traum warst. Sollen wir uns beweisen, daß es keine Illusion war? Ich glaube, Emily hat heute ihre letzte Stunde bei Agrowsky bevor er verreist. Wie wär’s, wenn ich dich heute nachmittag entführe?«
    »Ich habe einen Patienten«, wiederholte Leslie.
    »Was für ein Pech, daß ich ein solches Bild der Vollkommenheit bin. Sonst könnte ich deinen professionellen Rat suchen … Meine verehrte Dr. Barnes! Ich leide unter unerträglichem Schmerz und Einsamkeit, weil die schönste und faszinierendste Frau von ganz San Francisco die Gesellschaft ihrer Patienten der meinen vorzieht.« Er scherzte, aber in seiner Stimme schwang genug Aufrichtigkeit, daß Leslie erbebte.
    »Simon«, erwiderte sie, »würdest du deinem Orchester einfach eine Nachricht schicken und den Musikern mitteilen, du hättest beschlossen, vor dem Konzert keine weiteren Proben abzuhalten, und daß sie auf sich selbst gestellt sind?«
    Er lachte auf. »Gut gekontert, mein Schatz. Unglücklicherweise bin ich in einem Umfeld aufgewachsen, wo man davon ausging, daß Frauen keinen anderen Lebenszweck verfolgen sollten, als ihren Männern Freude zu bereiten. Vielleicht ist es gut, daß diese Zeiten vorbei sind. Jedenfalls hoffe ich, daß ihr beide bei dem Konzert meine Gäste sein werdet. Und anschließend … wer weiß?«
    Ähnliche Worte hatte Simon schon einmal zu ihr gesagt, und köstliche Erinnerungen und Vorfreude überliefen prickelnd ihren ganzen Körper.
    Doch nachdem Leslie aufgelegt hatte, ging sie in ihr Arbeitszimmer und dachte ein paar Minuten über das Geschehene nach. Sie hatte das alles nicht gewollt; aus einer Laune heraus und beeindruckt von Simons Persönlichkeit, hatte sie sich hinreißen lassen. Aber sie hatte niemals vorgehabt, sich emotional zu binden. Wollte sie das wirklich? Eine ernsthafte Liebesaffäre, nachdem sie zu der Einsicht gelangt war, daß Joel doch nicht der Richtige für sie war? War sie dabei, dieselbe Dummheit zu begehen wie mit sechzehn? Damals hatte sie sich unter dem Druck von außen, der weder mit erotischer Anziehung noch mit Zuneigung zu tun hatte, übereilt in eine sexuelle Beziehung gestürzt.
    Vielleicht, dachte Leslie mit einem Anflug von Galgenhumor, hat Simon mich verhext. Das würde zu allem anderen passen, das geschehen ist, seit ich hierher gezogen bin. Was würde Alison Margrave wohl dazu sagen, daß ihr ehemaliger Protege inzwischen zu einem Teil von meinem und Emilys Leben geworden ist?
    An der Wand vor Leslie hing einer ihrer Schätze, ein Wedgwood-Teller, der einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Amelia Barnes hatte Emily die Harfe hinterlassen und Leslie den Teller, und sie hatte das Stück stets in Ehren gehalten. Nicht um seines hohen Wertes willen, sondern weil sie seit ihrer Kinderzeit die kleinen Nymphen und Dryaden geliebt hatte, die auf dem leuchtend blauen Hintergrund um den Tellerrand tanzten. Deswegen hatte sie den Teller an diesen Ehrenplatz in ihrem Arbeitszimmer gehängt, und … plötzlich begann der Teller vor Leslies entsetztem Blick zu wackeln, hob sich von seinem Haken und schwebte durchs Zimmer. Leslie stürzte hinterher, um ihn aufzufangen, doch er fiel zu Boden, blieb wie durch ein Wunder aber unbeschädigt. Als Leslie ihn aufhob, fühlte er sich heiß an und prickelte unter ihren Fingern. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie ihn beinahe wieder fallen gelassen hätte.
    Leslie atmete ein paarmal tief durch, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen; dann legte sie den Teller auf den Schreibtisch. Vielleicht war das ein kleines Erdbeben gewesen …? Nein. Diese Erklärung wäre dieselbe Art intellektueller Unaufrichtigkeit, die sie bei anderen beklagte. Wie Eileen Grantson erlebte Leslie ein erneutes Aufflammen des Poltergeist-Phänomens, das sie für beendet gehalten hatte. Aber warum?
    Warum?
    Und sie konnte sich nicht einmal darum kümmern. In ein paar Minuten stand ihr erster Patient vor der Tür. Ihr blieb nicht einmal Zeit für eine Tasse Kaffee, um sich zu beruhigen.
     
    Nachdem sie den Vormittag mit ihren Patienten verbracht

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