Die Hüter der Schatten
schicken oder ihnen raten, die Lösung ihrer Probleme aus Tarot-Karten zu lesen.
Susan zog ihre Jacke an, als die Uhr noch einmal schlug.
Aber das ist unmöglich! rief eine Stimme in Leslies Innerem.
In diesem Moment sprang die Uhr von der Wand und krachte zu Boden. Der kleine Kuckuck sauste quer durchs Zimmer und prallte an die gegenüberliegende Wand. Leslie stand wie erstarrt da, doch Susan bückte sich nach der Uhr.
»Oh, Leslie, Ihre schöne Uhr! Wodurch mag sie nur von der Wand gefallen sein?«
Leslie zwang sich zu einem Lachen. »Zweimal dürfen Sie raten«, versetzte sie leichthin. »Entweder ein Erdbeben oder unser freundlicher Haus-Poltergeist. Suchen Sie es sich aus.«
»Ich habe keine Erschütterung gespürt«, meinte Susan verwirrt. »Aber natürlich könnten die Vibrationen auch von einem vorbeifahrenden Lastwagen gekommen sein.« Sie sammelte die Bruchstücke des Uhrengehäuses auf, während Leslie den kleinen Vogel vom Boden nahm und die Fragmente auf ihren Schreibtisch legte. Sie glaubte nicht, daß die Uhr noch zu reparieren war.
Was willst du mir mitteilen, Alison? Sie projizierte den Gedanken mit aller Kraft, während sie Susan zur Tür begleitete, erhielt jedoch keine Antwort. Warum meldete Alison sich bei einem schwachen Medium, aber nicht bei Leslie? Konnte das Erbe Alison Margraves, das sie angetreten hatte, tatsächlich neue Hoffnung für ihre Patienten bedeuten? Oder wurde sie langsam verrückt?
Im Musikzimmer spielten Emily und Simon im Duett – ein Stück von Debussy, vermutete Leslie. Ein harmonischer Dialog von Flügel und Harfe. Es war zu früh, die beiden zu unterbrechen und zu Abend zu essen. Doch Leslie konnte sich nicht zwingen, ins Büro zurückzukehren, wo auf dem Schreibtisch die zerschmetterte Uhr lag. Sie brachte es einfach nicht fertig.
18
Als Simon und Emily aus dem Musikzimmer kamen, hatte Leslie sich wieder einigermaßen gefaßt. Was hätte sie den beiden auch sagen sollen? Sie hatte geglaubt, Simon habe alle Geister aus diesem Haus ausgetrieben. Hatten ihre eigene Verwirrung und Wut, ihr mangelndes Vertrauen zu Simon diesen erneuten Ausbruch von Poltergeist-Aktivität hervorgerufen?
Simon fuhr Leslie zum Polizeirevier und versprach, auf sie zu warten.
»Ich weiß, was für eine Qual das für dich ist, Liebste. Alison haben diese Nachforschungen immer tief erschüttert, denn wenn sie Gewalt sah, mußte sie dieses Gefühl bis zu einem gewissen Maße in sich selbst aufnehmen …«
»Manchmal kommt bei den Nachforschungen keine Tragödie heraus, sondern irgendeine Farce«, meinte Leslie und berichtete Simon von Peggy Terman, dem angeblich verfluchten Geld und dem Zigeunertrick. »Ich hab’ mit dem Gedanken gespielt, dieses Medium beim Betrugsdezernat anzuzeigen.«
»Das solltest du, Leslie. Aber ich kann die Geschichte kaum glauben – dieser alte Trick hatte schon in Alisons Jugendzeit einen Bart. Ich weiß noch, daß sie mir davon erzählt hat … und von ein paar anderen Kniffen, die solche falschen Medien auf Lager haben. Außerdem sind schon Dutzende von Büchern darüber geschrieben worden. Zum Beispiel hat Gresham in seinem Roman Straße der Alpträume die ganze Schwindelszene aufgedeckt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß jemand im Jahr 1983 noch auf so was hereinfällt. Wie sagte noch P.T. Barnum? Jede Minute wird ein Narr geboren …«
»Mein Dad pflegte zu sagen: Auf jeden Narren kommen zwei andere, die ihm das Fell über die Ohren ziehen«, ergänzte Leslie.
Simon nickte. »Und ich glaube, von H.L. Mencken stammt der Spruch, daß man von der menschlichen Dummheit ausgezeichnet leben kann.«
Patricia Ballantine – die junge Polizistin, mit der sie sich am Nachmittag unterhalten hatte – bat Leslie, in einem bequemen Stuhl Platz zu nehmen, und zog eine Akte hervor. Dann meinte sie: »Oder würde es Ihnen leichterfallen, sich im Apartment des jungen Mannes auf ihn einzustellen? Wir fahren Sie gern hinüber.«
»Lassen Sie uns erst mal sehen, was wir vermittels der Bilder herausbekommen«, schlug Leslie vor. Bis jetzt hatte sie nie direkten Kontakt mit Angehörigen oder Habseligkeiten eines Verschwundenen gebraucht. Bei Phyllis Anne Chapman hatte schon die Stimme der Mutter am Telefon gereicht, um ihre Vision auszulösen. Officer Ballantine reichte ihr ein Foto, und Leslie strich mit den Händen darüber.
Verwirrt drehte und wendete sie das Bild in der Hand; sie empfing keine deutliche Botschaft, daß etwas nicht stimmte.
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