Die Hüter der Schatten
welcher Art? Leslie glaubte nicht, daß der Tod der Katze überhaupt etwas damit zu tun hatte; wahrscheinlich wurden dabei auf suggestive Weise die Selbstheilungskräfte stimuliert. Es war bedauerlich, daß Simon meinte, allein durch diese und keine andere Methode seinen Willen konzentrieren zu können, doch wenn Claire alles wußte, würde sie Simon ebensowenig verurteilen können wie Leslie.
»Tut mir leid«, sagte Claire und wischte sich das Gesicht ab, »es hat mich einfach überwältigt. Ich hatte nicht annähernd einen so starken Eindruck erwartet. Jetzt geht es schon wieder.«
Leslie fürchtete sich beinahe, die Frage zu stellen: »Können Sie erkennen, was hier geschehen ist?«
»Ich kann keine Einzelheiten wahrnehmen. Deswegen kann ich keine Vermißten aufspüren oder Mörder sehen wie Alison oder Sie. Ich empfange nur reine Gefühle … Ich weiß nur, daß an diesem Ort jemand buchstäblich durch die Hölle gegangen ist. Eine solche Verzweiflung habe ich noch nie empfunden. Ich kann mir gut vorstellen, daß eine frühere Bewohnerin hier Selbstmord begangen hat. Wenn ich lange genug hier bliebe, käme sogar ich in Gefahr. Dieses Gefühl, als wäre alles vorüber, das Ende, die vollkommene Vernichtung von allem, was die Existenz lebenswert macht. Eine Empfindung völliger Verdammung und Verzweiflung.«
Auch Leslie und Emily hatten, jede auf ihre Weise, diese Schwingungen gespürt: diese Bedrückung, das Gefühl, in einer ausweglosen Sackgasse zu stecken. Beide waren psychisch einigermaßen stabil; deshalb hatte die Wirkung nicht lange angehalten. Aber jetzt wußte Leslie, was sie aufgefangen hatten: Simons Verzweiflung kurz nach seinem Unfall. Wenn er so empfand, konnte ihm dann jemand die verrückten Rituale übelnehmen, die er vollzogen hatte?
Noch an diesem Tag, hatte er erzählt, habe der Genesungsprozeß eingesetzt. Wenn die Opferung einer Katze ihm die Bürde der Verzweiflung erleichterte, hätte sie ihm ihr eigenes Haustier – ihre Hände, ihr Augenlicht – überlassen, um ihn zu befreien. Und Simon war jetzt frei. Nur seine Gefühle waren als energetische Überreste hier im Atelier zurückgeblieben.
Kein Wunder, daß Simon das Atelier nicht hatte betreten wollen, den Ort, den er mit jener Zeit assoziierte, als seine Seele in tiefster Finsternis gewandelt war.
»Können wir diese Energie austreiben?«
Claire holte tief Luft. »Versuchen sollten wir es jedenfalls«, meinte sie. »Verfügen Sie über reines Wasser – Quellwasser, destilliertes Wasser für Ihr Dampfbügeleisen? So etwas in der Art?«
Von dem Schutzritual zur Sommersonnenwende waren noch etwa zwei Liter Wasser übrig.
»Und ich brauche Salz«, sagte Claire. »Vorzugsweise Stein- oder Meersalz.«
Zum erstenmal war Leslie glücklich über Emilys Gesundheitstick. Sie suchte Emilys Schachtel mit dem Meersalz und den Wasserkanister und reichte beides Claire.
»Ich nehme an, daß Sie keine eigenen Ritualgegenstände besitzen, oder?«
»Haben Sie den Altar in meinem Schlafzimmer gesehen? Meinen Sie so etwas?«
»Das dürfte hilfreich sein«, meinte Claire. »Holen Sie Ihren Kelch. Ich habe meinen auch dabei. Aber das Haus gehört Ihnen, und Sie sollten es selbst reinigen.«
»Dazu weiß ich nicht genug, Claire!«
Die ältere Frau seufzte. »Na schön. Das Ritual wäre allerdings wirkungsvoller, wenn Sie selbst es vollzögen.« Sie nahm Leslies Kelch, füllte ihn mit dem gereinigten Wasser und sprach mit leiser Stimme ein paar Formeln darüber. Dann weihte sie das Salz beinahe auf dieselbe Weise wie Simon:
»Kreatur der Erde, ich befreie dich von allem Unreinen; leihe uns für diese Handlung deine Kraft …« Leslie hörte nicht alle Worte. Ein Werkzeug war wie das andere; nur ihr Verwendungszweck unterschied sie. Simon hatte gesagt, es käme nicht darauf an, ob das Bannritual auf subjektiver oder objektiver Ebene wirke. Die Macht im Atelier war jedenfalls real genug, was ihre Wirkung auf den ungeschützten Geist anging.
»Dies ist wirklich nur eine Art mentale Erste Hilfe«, sagte Claire mit warnendem Unterton. »Sobald Sie dazu in der Lage sind, müssen Sie ein umfassendes Reinigungs- und Bannritual vollziehen. Ich glaube, wir können diese Energie mindestens einen Mondzyklus lang davon abhalten, jemand anderem zu schaden. Aber bis zur Tag- und Nachtgleiche müßten Sie eigentlich genug gelernt haben, um Ihr Haus angemessen zu säubern.«
»Was soll ich jetzt tun?«
»Waschen Sie sich die Hände, und sprechen Sie irgendein
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