Die Hueterin der Geheimnisse
geteilten Zuspruch.
Tern bedachte sie alle mit ihrem Blick und strebte dann
entschlossen den Hügel hinauf. »Kommt!«, sagte sie. »Es ist Zeit, dass wir uns das zurückholen, was uns gehört.«
Aha, dachte Bramble. Die Zauberin, die die Toten erweckt hat. Gut. Darauf habe ich gewartet.
Die Anhöhe war steiler, als sie auf den ersten Blick wirkte, und Snapper musste das Baby wieder Piper übergeben. Piper begann zu schnaufen, und das Baby hielt es für ein Spiel und lachte jedes Mal, wenn Piper den Atem heftig ausstieß. Statt Piper glücklicher zu machen, brachte sie jedes Lachen den Tränen näher.
»Searose weiß nicht, welches Unglück über uns hereingebrochen ist«, keuchte Piper Snapper zu, als sie den Gipfel der Anhöhe erreicht hatten und nun auf der anderen Seite bergab gingen.
Snapper lächelte grimmig. »So sollte es auch sein. Bete zu den Göttern, dass sie unwissend bleibt.«
Direkt hinter der Kuppe des Höhenrückens lag ein wirrer Leichenhaufen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Toten aufzubahren. Sie lagen ausgestreckt, mit verrenkten Gliedmaßen da. Die Blutflecken auf ihren Kleidern und ihre Haut wurden allmählich braun. Eine Reihe abgetrennter Arme war nachträglich oben auf den Haufen geworfen worden. Der Gestank nach offenen Eingeweiden, Erbrochenem, Blut und abgestandenem Urin war entsetzlich. Crab stand da und starrte vor sich hin. Piper würgte und rannte plötzlich nach vorn, wobei sie sich an Tern vorbeidrängte, um zu einer Leiche zu gelangen, deren Gesicht von einem anderen Toten fast vollständig verborgen wurde.
Sie schob die Leiche beiseite und stieß wehklagend den Namen Salmon aus, während sie den Kopf dieses Mannes in die Hand nahm. Mit der anderen Hand umklammerte sie fest Searose. Unaufhaltsam stieg in ihr Kummer auf, und Bramble war erschüttert von dessen Intensität. Es war reiner
Kummer, nicht durchsetzt von Angst vor ihrer eigenen Zukunft oder Wut oder Verwirrung. Er war so rein wie die Schneeschmelze, so heiß wie das Feuer. Er versengte Piper mit heißen Tränen, und selbst Bramble fand ihn nahezu unerträglich. Durch seine Stärke brach ihr ganzer eigener Kummer wieder hervor, all jener Kummer, den sie jemals empfunden hatte, doch vor allem der aus jüngster Zeit, der um Maryrose. Fast beneidete sie Pipers Fähigkeit, ihm freien Lauf zu lassen, sich ihm wie einer riesigen Welle hinzugeben.
Um sie herum entdeckten nun auch andere Frauen die Leichen ihrer Männer, Väter, Brüder, Söhne. Sie schluchzten, wehklagten, unterdrückten Tränen, fluchten, beteten … Bramble verschlug es den Atem angesichts dieses Ansturms.
Dann berührte Tern Piper an der Schulter. »Schwester«, sagte sie, »hör auf zu weinen. Warte, sieh her und hör zu.«
Sie zog Piper hoch und führte sie wieder zu Snapper, die sie in die Arme nahm, während Piper Tern verwirrt anblinzelte.
Während sie an ihnen vorbeiging, schaute Tern jede Frau scharf an. Rasch zog Bramble ihre Aufmerksamkeit von Pipers Innerem ab, bemüht, sich für die Zauberin unsichtbar zu machen. Noch eine Begegnung wie die mit Dotta würde sie zu sehr verunsichern. Etwas in ihr wollte nicht von Tern gesehen werden. Sie entwickelte eine immer stärkere Abneigung gegen Tern, vielleicht deshalb, weil sie zwar den Frauen, die aufgelöst waren vor Kummer und Angst, in die Augen sah, dabei jedoch kein Zeichen von Mitgefühl zeigte.
Als sie bei der Frau angelangt war, die vor dem Altar ausgespuckt hatte, blieb Tern schließlich stehen. »Du«, sagte sie. »Crab heißt du, nicht wahr? Ich brauche dich. Ich brauche deine Wut. Wirst du sie mir geben?«
»Was bekomme ich dafür?«, fragte Crab.
»Rache.«
Crab nickte entschlossen, woraufhin Tern kalt lächelte. Gegen diesen Blick kämpfen wir, dachte Bramble. Diesen Ausdruck in den Augen muss auch der Zauberer Saker haben, kurz bevor er tötet. Diesen Blick, der nach Blut dürstet. Als ich ein Kind war und Großpapa mir die Geschichte der Zauberin von Turvite erzählte, hielt ich sie für eine Heldin. Sie spürte eine große Trauer, die losgelöst war von ihrer Anteilnahme an Pipers Kummer. Es war die gleiche Trauer, die sie empfunden hatte, als sie zum ersten Mal begriff, dass ihr Vater nicht der stärkste, klügste Mann auf der Welt war und ihre Mutter nicht die beste Frau im Dorf. Es war die Traurigkeit, die sich einstellt, wenn die Wirklichkeit einen Traum zerstört. Die Traurigkeit, die einen überkommt, wenn Gewissheiten zerstört werden.
Tern stellte sich
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