Die Hueterin der Geheimnisse
und das war ungewöhnlich. Gleiches galt für seine Kleidung - Strumpfhose und Gamaschen und darüber ein langer, schwerer Rock,
fast wie der einer Frau. An seinem linken Oberarm trug er einen goldenen Armreif in Form eines Drachens. Seine Augen waren sehr blau, und für so einen alten Mann hatte er überraschend gute Zähne. Leof wünschte sich, seine eigenen Zähne wären so gerade gewesen.
Er nickte. »Zum Gruße, mein Herr.«
»Seid mir auch gegrüßt, junger Mann.« Der alte Mann schaute ihn nachdenklich an.
Dann kam eine Stimme aus Leofs Kopf oder aus dem Wasser oder aus der Luft; sie umgab ihn, füllte ihn an.
»Hör zu«, sagte die Stimme. Es war die Stimme seiner Mutter.
Er und Arrow waren schon hundert Mal zu diesem Teich geritten, aber plötzlich hatte Leof den Eindruck, als habe er sich in eine unbekannte Wildnis hineingewagt, wo alles möglich war. Sein Herz raste, seine Hände waren feuchtkalt, und er tastete nach seinem Schwert.
»Der See schickt Euch«, sagte Leof voller Gewissheit.
Der Mann lächelte. »Gut erkannt! Ich rechnete damit, dass Ihr fragen würdet, wer ich bin. Tatsächlich, ich bin sein Botschafter. Sein Sprachrohr, wenn Ihr so wollt.« Seine Stimme klang wunderschön, warm und tief und federnd, aber in ihr schwang auch der Anflug eines Akzents mit, seine Aussprache war dialektisch gefärbt. Es war eine Stimme, der man leicht trauen konnte.
Leof bemühte sich von Herzen, sich nicht vom Klang dieser Stimme einlullen zu lassen.
»Mein Sohn, eine große Gefahr nähert sich, und Ihr werdet die Kräfte des Sees benötigen, um sie zu überleben.«
» Ich werde sie benötigen?«
»Eure Leute. Alle Leute. Der See ist nicht Euer Feind, aber er wird sich nicht bezwingen lassen. Es gibt keine lebende Macht auf dieser Welt, die ihn besiegen könnte.«
Leof verstand diese Andeutung. »Und was ist mit der Macht der Toten?«
»Wenn die Toten große Macht erlangen, wird es Euren Leuten schlecht ergehen. Überzeugt Euren Herrn davon.«
Leof lächelte wehmütig. »Mein Lord geht seine eigenen Wege.«
Der Mann lachte freundlich. »Das tat meiner einst auch. Aber wenn Ihr ihm gegenüber loyal seid, dann könnt Ihr ihn überzeugen. Der See wird widerstehen.«
Leof zögerte, doch sein angeborener Wahrheitssinn setzte sich durch. »Er glaubt nicht an den See«, räumte er ein.
Der Mann verstummte, und seine Augen weiteten sich ein wenig. Ungläubig stieß er einen Pfiff aus. Leof war überrascht von der Reinheit des Klangs - es klang wie der Pfiff eines kleinen Jungen.
»Das … erklärt einiges.« Er hob die Hand. In Anbetracht seiner schlichten Kleidung waren seine Fingernägel sonderbar lang und gut gepflegt. »Seid entschlossen«, sagte er.
Leof blinzelte. Der Mann war … einfach weg. Einfach nicht mehr da . Er war nicht beiseitegetreten, hatte sich nicht bewegt. Er war einfach verschwunden. Leof fing an zu zittern. Das war ein echter Zauber. Echter Zauber, keine Geisterbeschwörung, kein Trick, nicht die Wirkung eines Zaubertranks. Von etwas, das eine solche Macht besaß, hatte er noch nie gehört, und Leof wusste, dass es sich um die Macht handeln musste, die der See innehatte, nicht der Mann. Dieser Mann war ein ganz normaler Mensch gewesen. Leof überwand sich dazu, den Wasserlauf auf den Steinen, die den Teich umsäumten, zu überqueren und die Stelle des Bodens zu untersuchen, an welcher der Mann gestanden hatte.
Als er Fußabdrücke sah, verspürte er eine große Erleichterung, auch wenn sie nur vom Teich bis zu den Bäumen führten, nicht wieder zurück. Zumindest hatte sich sein
Eindruck, dass der Mann aus Fleisch und Blut gewesen war, bewahrheitet. Ein Botschafter des Sees. Mit neuer Energie sprang er über den Wasserlauf zurück und ging zu Arrow.
Die Frage war: Sollte er Sorn davon berichten? Thegan musste er es sagen, keine Frage, auch wenn dieser voreilig den Schluss ziehen würde, dass dieser Mann der Zauberer war, den er zu seinem Feind erklärt hatte. Seine verblüffende Fähigkeit, sich in Luft aufzulösen, würde ihm als Beweis genügen. Leof hielt inne, zügelte Arrow, als er an der Stelle angekommen war, wo der Weg vom Wasserlauf abwich, und schaute über das Feld zu der Festung auf dem Hügel. Sollte er es Thegan erzählen? Und wenn er dies nicht tat, war das Verrat? Kontakt mit dem Feind aufnehmen?
Er sehnte sich danach, es mit Sorn zu besprechen, es alles zur Betrachtung durch diese klugen grünen Augen auf den Tisch zu legen. Aber vertrauliche Gespräche
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