Die Hueterin der Krone
überrascht. Seit dem Normandiefeldzug, als Stephen nach England zurückgekehrt und Robert in Caen geblieben war, um seine Wunden zu lecken, hatte jeder damit gerechnet, dass Gloucester seinen Eid wider rief. Das gab den Anstoß zu weiteren Rebellionen, und da Gloucester auf beiden Seiten des Kanals Ländereien besaß, würde die Lage in beiden Gebieten instabil werden. Es waren denkbar schlechte Neuigkeiten, doch Will empfand trotz allem einen Anflug freudiger Erregung. Nun fühlte sich der König noch stärker verpflichtet, die Männer zu belohnen, die ihm die Treue hielten, und wer wusste, welche Reichtümer außer einer Grafschaft und der Ehe mit einer Königin seiner noch harrten?
27
Festung Carrouges, Normandie, Sommer 1138
In ihrer Kammer in Carrouges ließ sich Matilda auf das Bett sinken. Ihre Krone verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie mochte ja filigran und zierlich aussehen, aber sie hatte sie fast den ganzen Tag lang anlässlich formeller Zeremonien und Feierlichkeiten getragen, ihr Nacken schmerzte unter dem Gewicht, und der Reif drückte an den Schläfen. Dennoch hatte sie nicht die Absicht, sie abzunehmen, denn solange sie sie trug, war sie eine Königin und Kaiserin und verfügte über Autorität.
Henry holte seinen kleinen Stuhl, ging damit zum Büfett und kletterte darauf, um die beiden gravierten Silberbecher zu betrachten, die dort standen. Sie waren ihm und seinem Bruder von den Bewohnern von Saumur im Austausch für einen Gnadenbrief überreicht worden.
»Wann kann ich aus meinem Wein trinken?«, fragte er in die Runde.
»Wenn du ein Mann bist«, erwiderte Matilda. »Außerdem sind das keine gewöhnlichen Trinkbecher, sondern das Unterpfand einer Übereinkunft zwischen unserer Familie und den Bürgern von Saumur.« Ein warnender Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Wie sie Henry kannte, würde er seine Hunde daraus trinken lassen oder Schlimmeres damit anstellen. »Und du fasst auch Williams Becher nicht an«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie sich seine Hand zum Becher seines jüngsten Bruders stahl. Es waren nur zwei und keine drei Becher, weil Geoffrey, ihr mittlerer Sohn, im Haus von Goscelin de Rotonard, einem Vasallen seines Vaters, aufwuchs. Es empfahl sich nicht, alles auf eine Karte zu setzen. Auch William würde zu Zieheltern gegeben, wenn er älter war, aber noch konnte er mit knapp zwei Jahren in den Frauengemächern bleiben. Henry schenkte ihm keine Beachtung, weil er nur ein Baby, er hingegen der Erbe und somit der wichtigste der drei Brüder war.
Geoffrey betrat die Kammer. Auch er trug eine Goldkrone – nicht so kunstvoll gearbeitet wie Matildas, aber dennoch ein Symbol seines Ranges – und eine blaue, mit kleinen goldenen Löwen bestickte Seidentunika. Henrys Tunika war aus demselben Stoff gefertigt. Geoffrey schnallte das Schwert ab, das er anlässlich der Feierlichkeiten angelegt hatte, und hängte es an die Rückenlehne eines Stuhls. Kurz darauf folgten Matildas Halbbrüder Robert und Reynald zusammen mit Baldwin de Redvers.
Robert gesellte sich zu seinem Neffen und bewunderte den silbernen Becher mit gebührendem Interesse.
»Wenn du aus einem silbernen Becher trinkst, wirst du nie vergiftet werden«, sagte er.
Henry sah ihn tadelnd an. »Mama sagt, das ist kein Trinkbecher. Es ist das Unterpfand einer Übereinkunft.«
Um Roberts Lippen zuckte ein belustigtes Lächeln. »Sie hat Recht, aber du solltest trotzdem immer eine Silbermünze in deinen Becher tun, damit das Getränk süßer schmeckt. Hast du das gewusst?«
Henry schüttelte den Kopf, aber so wie alles Wissenswerte sog er auch Roberts Erklärung auf wie ein trockener Schwamm Wasser.
»Du bist eine wahre Quelle bedeutsamer Weisheiten, Robert«, bemerkte Geoffrey trocken.
»Mein Vater legte bei allen seinen Kindern Wert auf Bildung.« Robert stützte den Ellbogen auf die Anrichte. »Warum soll man sich auf Gedeih und Verderb Priestern und Scharlatanen ausliefern, wenn man sich durch Studien bis an die Zähne mit Wissen bewaffnen kann?«
»Wenn man als Frau über etwas Bildung verfügt, führt einem das erst richtig vor Augen, wie sehr man Priestern und Scharlatanen ausgeliefert ist«, warf Matilda ein.
»Soll das heißen, dass du es vorgezogen hättest, ungebildet zu bleiben, mein teures Eheweib?«, fragte Geoffrey mit einem hämischen Funkeln in den Augen.
»Bildung ist für eine Frau doppelt so wichtig wie für ei nen Mann, und es ist für sie ungemein schwer, sich bei selbigem Gehör zu
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