Die Hueterin der Krone
blickte zum Fenster hinüber. Die Sonne hatte schon den Zenit überschritten, aber die Welt draußen erstickte immer noch in der Hitze. Bald gibt es Sturm, dachte sie, und nicht nur einen.
Endlich wurde ihr das gebadete und gewickelte Neugeborene gebracht. Matilda legte es in die linke Armbeuge. Seine winzigen Wimpern waren mit Gold bestäubt, sein kleiner Mund machte schmatzende, saugende Bewegungen. Sie dankte Gott, dass er unversehrt und gesund zur Welt gekommen war. Jetzt musste sie um ihre eigene Genesung beten. Geburten waren so kräftezehrend. Drei Söhne in vier Jahren. Ob Geoffrey nun Töchter wollte oder nicht, sie hatte bei dieser Geburt zum letzten Mal ihr Leben riskiert. Sie würde das Bett nicht mehr mit ihm teilen, weil sie ein Land und ein Herzogtum zurückgewinnen musste, und wenn dieses Baby nicht wäre, hätte sie den Kampf schon längst aufgenommen.
»Bringt mir meine anderen Söhne«, befahl sie den Frauen. »Sie sollen ihren neuen Bruder sehen.«
Kurz darauf wurden Henry und Geoffrey in die Wöchnerinnenkammer geführt. Henry brannte darauf, einen Blick auf das Baby zu werfen, verlor danach aber das Interesse. Er war schon ein großer Junge und fühlte sich zu dem Kind in den Armen seiner Mutter nicht sonderlich hingezogen. Zwar empfand er einen leichten Stich der Eifersucht, weil sie ihren Arm um den kleinen Bruder und nicht um ihn gelegt hatte, aber das gab sich rasch, weil er wusste, dass er nach wie vor den ersten Platz einnahm. Er drückte einen pflichtschuldigen Kuss auf die Stirn des Kleinen, rannte dann herum, um die Kammer zu erkunden, kletterte auf die Bank unter dem Fenster und spähte hinaus. Geoffrey blieb bei Matilda auf dem Bett sitzen und tat sein Bestes, um das Wort »William« auszusprechen.
Matilda betrachtete ihre drei Söhne. Zukünftige Könige, Herzöge und Grafen, aber nur, wenn Geoffrey und sie ihnen den Weg ebneten, und es gab so viele Rückschläge.
Im April hatte der Papst verfügt, dass sich Stephen rechtmäßig zum König hatte krönen lassen, und dementsprechende Dekrete erlassen. Der König von Frankreich hatte Stephens Anspruch anerkannt. Sie hatte erwogen, die päpstliche Entscheidung anzufechten, aber das kostete Zeit, und während dieses diplomatischen Kampfes konnte Stephen seine Position festigen. Nicht lange nach der Verfügung des Papstes hatte ihr Bruder Robert kapituliert und Stephen den Treueeid geleistet. Matilda hoffte, dass er diese Entscheidung aus praktischen Erwägungen getroffen hatte und dass er während seiner Zeit am Hof seinen Einfluss auf andere geltend machen konnte. Dennoch fühlte sie sich verraten und im Stich gelassen, vor allem weil er zuvor zusammen mit anderen Stephens Bruder Theobald die Krone hatte antragen wollen.
Ihr dritter Sohn war in ihren Armen eingeschlafen und gab beim Atmen kleine krächzende Geräusche von sich. Sie reichte ihn behutsam seiner Hebamme, damit sie ihn in seine Wiege bettete, wo er zumindest eine Weile in Frieden und Unschuld schlummern konnte.
23
Argentan, Normandie, September 1136
»Mama, schau mal!«
Matilda unterbrach ihr Gespräch mit dem Sattler, drehte sich um und sah Henry aufrecht auf dem Rücken eines rotbraunen Ponys sitzen. Die Septemberbrise zerzauste sein rotgoldenes Haar und seine tiefblauen Augen leuchteten. Er hatte vor zwei Wochen mit den Reitstunden begonnen und genoss jede Minute. Vorerst führte ein Stallbursche das Pony im Schritt im Hof herum. Eigens für ihn war ein seiner Größe entsprechender Sattel angefertigt worden, der verhinderte, dass er zwischen Knauf und Hinterpausche herumrutschte. In der nächsten Zeit durfte Henry die Zügel noch nicht selbst halten, weil er nicht die nötige Kraft und Statur besaß, aber er war mit dem Umgang mit Pferden bereits vertraut und entwickelte ein Gefühl für den richtigen Sitz und das Halten des Gleichgewichts.
»Du machst deine Sache wirklich sehr gut«, lobte Matilda ihn stolz. »Jeder Zoll ein König!«
»Ich will galoppieren!«
»Das sollst du auch, aber jetzt noch nicht. Du musst erst noch ein paar Dinge lernen und ein bisschen wachsen.«
»Aber ich bin jetzt ein großer Junge!«
Ihre Lippen zuckten angesichts der Entrüstung in seiner Stimme. »Das stimmt, aber du musst trotzdem noch ein wenig größer werden.«
Der Stallbursche führte das Pony weiter. »Schneller!«, schrie Henry. »Ich will schneller reiten!«
Matilda hörte jemanden rufen und blickte zur Brustwehr hinüber. Einen Moment später kam ein Soldat auf
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