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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Galvani
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Compostela war der einzige ungewöhnliche Fund in Titus’ Zimmer. Es war möglicherweise nichts, was mit den Morden in Zusammenhang stand; andererseits ging es auch um Pamphlete gegen Martin Luther – und dazu passte wiederum die Kutte ... Plötzlich erstarrte Christiane. Der Reformator war Augustiner-Eremit gewesen und hatte wahrscheinlich ebensolch einen Umhang getragen. Es gab also einen Zusammenhang zwischen ihren seltsamen Entdeckungen in Meitingers Haus. Und vielleicht lag der Schlüssel zu allem doch in einer Vergangenheit, die sie stets ignoriert hatte.
    Severin war tot, Titus verschwunden. Keiner der beiden Männer konnte ihr die gewünschten Auskünfte geben. Sie kannte jedoch einen Menschen, der eine gewisse Ahnung über die Umstände haben musste, allein vom Alter her – Hans Walser. Und sie würde nicht von der Seite ihres Vaters weichen, bevor er ihr gesagt hatte, was er wusste. Diesmal würde er mit ihr reden! Das schwor sie sich. Dabei flogen Christianes Blicke zu dem einfachen Holzkreuz über dem Bett ihres Schwähers.

32
    Hans Walser lehnte über den Plänen des Wasserleitungssystems, als Christiane sein Dienstzimmer betrat. Der Besuch seiner Tochter störte ihn bei einer wichtigen Überlegung. Das war nicht nur offensichtlich – er teilte es ihr sogleich unumwunden mit: »Ich habe zu arbeiten, komm ein andermal wieder.«
    »Nein, Vater, das werde ich nicht tun«, erwiderte sie ruhig. »Ich muss mit dir sprechen ...«, sie holte tief Luft, um ihr Anliegen deutlicher vorzutragen, doch er unterbrach sie:
    »Stiehl mir nicht die Zeit, Tochter. Es gibt ein Leck in der städtischen Wasserleitung. Das ist wichtiger als Weibergeschwätz. Geh zu deiner Mutter, wenn du tratschen willst.«
    Doch Christiane ließ sich nicht abwimmeln. »Notfalls werde ich warten, bis du fertig bist«, versetzte sie. »Einerlei, ob es noch Stunden dauert – oder Tage. Ich bin für alle Fälle gerüstet.«
    Christiane hatte sich darauf eingerichtet, dass ihr Vater sich nicht sofort darauf einlassen würde, mit ihr zu reden. Das Mindeste, was er tun konnte, war, ihre Geduld auf die Probe zu stellen. Schon allein, um sie zu strafen, weil sie ihn störte und diesmal keinen Widerspruch duldete, würde er so tun, als sei er anderweitig beschäftigt. Mit ein wenig Einfallsreichtum hoffte sie jedoch, ihn überlisten zu können. In ihrem Beutel führte sie Lektüre mit sich und einen Keramikflakon mit Apfelmost. Vielleicht benahm sie sich lächerlich, aber das war ihr egal, denn sie wollte Eindruck schinden. Sie vermutete, Hans Walser aus der Reserve zu locken, indem sie sich, unabhängig von jeder Bitte, in seiner Schreibstube häuslich niederließ. Deshalb machte sie es sich auf einem Stuhl im Hintergrund des Zimmers bequem, strich gelassen ihre Röcke glatt und nahm das Buch aus ihrer Tasche, klappte es auf undbegann unverzüglich an irgendeiner Stelle zu lesen. Es war ein Roman von Georg Imhoff, den sie mehrfach verschlungen hatte und fast auswendig kannte. Sie brauchte sich also auf den Inhalt nicht zu konzentrieren, um den Fortgang der Geschichte zu erfahren. Durch ihre Wimpern beobachtete sie den Brunnenmeister, der sie verblüfft anstarrte.
    Nachdem er sich wieder gefasst hatte, befand Hans Walser scharf: »Du bist von Sinnen, Tochter. Komm zur Vernunft und geh mir aus den Augen. Das ist das Beste, das du für uns alle tun kannst.«
    Christiane blieb regungslos. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Buchstaben sich in dem Roman aneinanderreihten, aber sie tat so, als sei sie gefesselt von der Lektüre.
    »Du störst!«, fuhr der Stadtbrunnenmeister mit erhobener Stimme fort. »Eine Rohrleitung zu reparieren, ist eine schwierige, mathematische Sache. Hast du eine Ahnung davon, wie man den Wasserdruck berechnet?«
    Sie hob kurz ihren Blick. »Nein, natürlich nicht. Du kannst aber weiter deiner Arbeit nachgehen, während ich ...«
    »Hier wirst du nichts tun«, herrschte er sie an. Er riss sich die Sehhilfe von der Nase und trat auf Christiane zu, offenbar willens, seine uneinsichtige Tochter mit Gewalt aus seiner Schreibstube zu entfernen. Seine Knie berührten fast ihren Rock, die Hände hatte er zu Fäusten geballt. »Ich werde jetzt nicht mir dir reden«, verkündete er, »selbst wenn du hier sitzen bleibst und schwarz wirst.«
    Einen beängstigenden Augenblick lang fragte sich Christiane, ob er sie tatsächlich schlagen würde. Ihr Vater hatte indes noch nie die Hand gegen sie erhoben; Züchtigungen hatte er, als

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