Die Hüterin des Evangeliums
sie sich schon in diesem Zustand befand, denn sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ihr Kopfschien so leer, ihr Schädel nur noch die Hülle eines verlorenen Geistes.
Manchmal kehrten die Gedanken zurück. Dann fiel sie in düstere Alpträume, in denen sie Luzifer als Lichtbringer und den Höllensturz der Engel vor sich sah, der nicht im Feuer, sondern in absoluter Dunkelheit mündete. Sie wachte erschrocken auf. Niemand war zur Stelle, der sie tröstete, und die Einsamkeit belastete sie mehr als der Traum, der sich nicht abschütteln ließ.
Sebastian, dachte sie traurig. Ihr geliebter Mann hatte sie in den Armen gewiegt und getröstet, wenn sie nachts aufgewacht und verzweifelt gewesen war. Er hatte ihr wundervolle Geschichten erzählt, die sie dazu brachten, alles Böse zu vergessen und glücklich zu schlummern. Doch Sebastian war tot. Er würde sie nie wieder beschützen. Er war ermordet worden. Vergiftet, bis seine Eingeweide sich aufgelöst hatten und er in seinem eigenen Blut verendete wie ein Tier.
Stumme Tränen liefen über Marthas Gesicht, doch sie spürte sie nicht, denn der Schüttelfrost griff erneut mit eisiger Hand nach ihrem Körper.
Sie wollte die Magd fragen, die nach ihr sah und nichts anderes tat, als ihr etwas zu trinken anzubieten und eine weitere Decke über ihr auszubreiten, wo Christiane sei. Außerdem wollte sie sich nach ihrem Kind erkundigen. Es war nicht möglich. Ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Die Zunge lag bleischwer hinter den Zähnen, ihre zitternden Kiefer waren verspannt und ließen sich nicht trennen. Die Kelle Wasser, welche die Magd ihr einzuflößen versuchte, rann an Marthas Mundwinkeln herab und sammelte sich in ihrer Halsbeuge.
Panik stieg in ihr auf. Aber sie war zu schwach, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Ihr Bewusstsein floh wieder vor der Wirklichkeit. Sie fühlte sich eingepfercht in einen dunklen Schacht, wie in einem Brunnen, den ihr Oheim gebaut hatte.Als sie Kinder waren, hatte Christiane ein Versteckspiel erfunden und war in einen Brunnen geklettert, doch Martha hatte der Mut dazu gefehlt. Es war nichts passiert, außer dass Christiane entdeckt und von ihrer Mutter gescholten und verhauen worden war. Martha hatte die Tapferkeit ihrer Cousine bewundert. Und sie bewunderte sie noch heute. Christiane würde dafür sorgen, dass alles gut wurde. Vielleicht war es doch kein dunkler Schacht, eher ein Tunnel. Martha glaubte am Ende ein kleines Licht zu erkennen. Wie schön ...
Ein brennender Schmerz holte sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Lider flatterten, aber sie konnte nichts erkennen außer einem dunklen Umhang, der über ihr Gesicht fiel und ihr die Sicht nahm. War der Teufel da, um sie zu holen? Kam er zu ihr, wie er Sebastian von ihr genommen hatte? Sie hatte ihrem Liebsten nicht geglaubt, jetzt war sie sicher, dass es ihr ebenso erging wie ihm. Unwillkürlich versuchte sie, sich zu bewegen, um Satan abzuschütteln.
»So haltet doch still, Rehmin«, bat eine sanfte, erstaunlich geduldige Männerstimme. »Der Aderlass wird schmerzhaft, wenn Ihr Euch heftig bewegt. Mit dem Schröpfschnepper ist die Blutentnahme einfacher als mit einem Flietenmesser, aber zappeln solltet Ihr trotzdem nicht.«
Martha lag still. Sie spürte, wie eine warme Flüssigkeit von der Schläfe über ihre Wange rann. Wasser konnte das nicht sein. Waren dies ihre eigenen Körpersäfte? Sie wollte etwas sagen, dem Bader oder Arzt oder wer sie behandelte mitteilen, dass sie sich schwach fühlte, wie eine leere Hülle ihrer selbst. Außerdem wollte sie ihm sagen, dass sie seiner Dienste nicht bedurfte, denn sie hatte kein Geld, ihn zu bezahlen, und Christiane plagten entsetzliche Schulden ...
»Schaut her, Meitingerin, Eure Cousine ist aus der Ohnmacht erwacht«, verkündete der Mediziner nicht ohne Stolz. »Die Behandlung zeigt Wirkung.«
»Ach, sie ist so bleich«, Christiane sprach sehr leise und gepresst, »als wäre bereits alles Leben aus ihr gewichen.«
Christiane war an ihrem Bett. Das war gut. Martha spürte unendliche Erleichterung. Wenn Christiane bei ihr war, konnte ihr nichts Böses geschehen.
»Sie ist krank, Meitingerin, schwer krank. Ihr solltet nach einem Geistlichen schicken.«
»Der Tod ihres Gatten hat ihr das Herz gebrochen«, flüsterte sie. »Ich wünschte, Delius hätte ...«, den Rest des angefangenen Satzes behielt sie jedoch für sich.
Ja, dachte Martha, Sebastian hatte ihr Herz gehört. Und er hatte einen Teil davon mit ins Grab genommen. Oder
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