Die Hüterin des Evangeliums
in den Himmel. Der andere Teil gehörte Johannes – auf immer und ewig. Ihr Sohn war noch klein, er würde sich nicht an seinen Vater erinnern – und an seine Mutter auch nicht. Er würde sie wahrscheinlich nicht einmal sonderlich vermissen, denn Christiane war da, wie sie immer für ihn da gewesen war und für ihn gesorgt hatte. Es ist gut, dass sie da ist, sinnierte Martha.
Sie fühlte, wie sich ihr Geist aufzulösen begann, wie die Leere wieder Besitz von ihrem Kopf nahm. Doch diesmal empfing sie keine Dunkelheit. Da war nur Licht.
35
Es war fast nur ein Kratzen an der Tür, aber es störte Wolfgang Delius beim Verfassen seines Briefes an Amalie. Er schrieb so konzentriert, dass ihn das Geräusch aufschreckte und er im ersten Moment trotzdem nicht wusste, worum es sich dabei handelte. Es war mitten in der Nacht, und die Trinkstube hatte inzwischen ebenso geschlossen wie alle anderen Bier- und Weinschänken, die Stadt schlief, und von derSteinhausgasse drang kein Laut herauf. Anfangs glaubte er an eine Katze, die Einlass begehrte, doch das Klopfen wurde energischer.
Ungehalten über die Störung warf er die Feder hin, erhob sich, streckte seine vom langen Sitzen steifen Glieder und riss die Tür auf, um den ungebetenen Besucher abzuweisen. Ihm lagen eine Menge unfreundliche Worte auf der Zunge, doch stattdessen entfuhr ihm nur ein erstauntes »Meitingerin«.
Verblüfft starrte er sie an, rührte sich nicht, schickte sie nicht fort und bat sie auch nicht herein. Die Witwenhaube saß schief, ihre Haare hatten sich aus den Spangen gelöst und hingen in dicken Strähnen auf ihre bebenden Schultern, und in ihren Augen über den ungesund geröteten Wangen schimmerten Tränen. Ihre ganze Erscheinung war nichts als Schmerz, und sein Herz zog sich in grimmiger Vorahnung zusammen.
Ihre Lippen zitterten, als sie hervorstieß: »Sie ist tot.«
Diese drei Worte schienen ihr unendliche Mühe zu bereiten, und Delius fürchtete, dass Christiane Meitinger im nächsten Moment zusammenbrechen würde. Unwillkürlich streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zurück.
»Ihr habt sie umgebracht!«
Die Anklage traf ihn nicht. Er wusste ja nicht einmal, was sie meinte. Aber er wollte es auch nicht wissen. Er sah die Trauer, die sie fast um den Verstand brachte, und er konnte nachfühlen, was sie empfand. Martha Rehm war gestorben. Es bedurfte keiner weiteren Nachfrage, und er war zutiefst erschüttert. Deshalb trat er ungeachtet ihrer Zurückweisung vor und legte die Arme um sie. Nicht wirklich sicher, ob sie seines Trostes bedurfte oder er des ihren.
Zu ihrer eigenen Überraschung ließ sie seine Berührung geschehen. Seine Umarmung tat ihr wohl, die Wärme seines Körpers strömte durch ihren Leib, der Schlag seines Herzenspumpte Lebendigkeit auch durch ihre Brust. Dabei hatte Christiane geglaubt, für immer zu erstarren, als der nach ihrer Heimkehr von der Unterredung mit ihrem Vater herbeigerufene Arzt Marthas Tod festgestellt hatte. Anfangs hatte sie nicht einmal weinen können. Die Tränen waren erst über ihre Wangen gelaufen, als sie, brennend von dem Wunsch nach Vergeltung und blind gegen die Gefahren der Nacht, durch die Gassen gerannt war. Wolfgang Delius war schuld. Davon war sie überzeugt. Er hätte Martha nicht schonungslos eröffnen dürfen, dass Sebastian einem Giftmord zum Opfer gefallen war. Der Fremde, der sich ungebeten in ihre Angelegenheiten mischte, hatte Martha das Herz gebrochen. Und an Christianes Meinung änderte auch das medizinische Gerede von den Säften nichts, die durch Marthas Fehlgeburt verdorben sein könnten. Dem Körper ihrer Cousine und Freundin war es wieder gutgegangen, sie hatte vielmehr die entsetzliche Kette von Schicksalsschlägen nicht verkraftet. Martha war viel zarter als Christiane gewesen und hatte in ihrem Leben so viel durchmachen müssen. Irgendwann hatte sie eben ihre Kraft verloren.
Die Verzweiflung, die Christianes Seele belastete, löste sich in Schluchzen auf. Obwohl er alles andere als der geeignete Mann war, ihr Trost zu spenden, entlud sich ihr Schmerz an der Schulter von Wolfgang Delius.
Eine Weile lang standen sie so in der Tür zu seiner Kammer. Er hielt sie umfasst, und Christianes Hände hatten sich wie von selbst gehoben, um seinen Körper zu berühren. Sie ertastete seinen Rippenbogen, die Muskeln in seinem Rücken. Nie zuvor hatte sie ein Mann auf diese Weise umarmt. Noch nie war sie in einer Situation gewesen, die so sehr nach Linderung und Hoffnung
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