Die Hüterin des Evangeliums
für ihre ehelichen Pflichten verloren. Warum aber hatte sie Severin so gehasst, dass sie ihm eine Fluchtafel gab und nicht ihrem Bruder und Liebhaber? Wahrscheinlich hatte sie Georg auch in anderer, verbotener Weise geliebt, beantwortete sich Christiane ihre Frage selbst. Solche Dinge kamen vor. Selbst in der Bibel wurde Inzest beschrieben. Karl hatte davon gesprochen, dass die erste Meitingerin einen anderen als ihren Gemahl liebte. Waren diese Gefühle der Schlüssel zu allem? Vielleicht, dachte Christiane, hatte sich Imhoffs Schwester aus Scham vom wahren Glauben abgewandtund deshalb schließlich bei den Täufern Zuflucht gesucht.
»Es tut mir leid«, murmelte sie, weil sie den Eindruck hatte, sich zu Imhoffs Offenbarungen äußern zu müssen. Und es waren nicht einmal leere Worte. Alle Beteiligten hatten ein schweres Schicksal getragen. Es war ihr nur nicht klar, warum Meitinger und Imhoff nach dem Vorgefallenen noch eine derart tiefe Geschäftsbeziehung und Freundschaft pflegten. Schonungslos erkundigte sie sich danach.
»Ihr solltet Euren Schwäher fragen, wenn Ihr wissen möchtet, was Severin und mich verband«, erwiderte Imhoff. »Der alte Titus muss es Euch erzählen.«
»Ach, der ist verschwunden. Ich habe überall nach ihm gesucht und kann ihn nirgends finden.«
»Sein Verhalten beweist, dass er der wahre Schuldige ist«, Imhoff schien zu triumphieren. Leutselig neigte er sich zu Christiane, zupfte an ihrem Haar, als wolle er einen Grashalm daraus lösen. »Bereitet es dir Freude, zu erfahren, dass ich dir fast ebenso nah wie meiner Schwester war?« Seine Stimme klang rau und verheißungsvoll. »Ich habe nicht viele Frauen in meinem Leben begehrt, aber dich hätte ich lieben können, wenn die Umstände anders gewesen wären. So konnte ich nur meine Finger in dich stecken und für einen Augenblick von dem Zauber kosten, dich zu besitzen.«
Sie atmete tief durch. Die Lider wurden ihr schwer, und sie wusste nicht, ob dies aus Erleichterung geschah oder weil ihr der Wein zu Kopf gestiegen war. Am Rande ihres Gesichtsfelds bemerkte sie, wie sich eine Wolke vor die Sonne schob. Was hatte sie doch gleich mit Georg Imhoff besprechen wollen? Sie konnte sich nicht mehr genau entsinnen, erinnerte sich jedoch, dass ihr Gespräch nicht dem Weg gefolgt war, den sie beabsichtigt hatte.
»Ich bin so schläfrig ...«
Er schüttelte sie grob. »Nicht einschlafen. Wir haben noch einen kleinen Ritt bis Auerbach vor uns. Am besten, du vergisst die alten Geschichten. Sie sind es nicht wert, sich in der Ewigkeit damit zu befassen. Komm, wir brechen auf.«
Auerbach? In Christianes sich dumpf anfühlendem Schädel schlug eine Glocke Alarm. Trotz des unvorstellbaren Schreckens, der sie erfasste, war sie nicht in der Lage, ihre Augen offen zu halten. »Was wollen wir denn in Auerbach?«, brachte sie kaum artikuliert hervor.
»Willst du nicht sehen, wo dein Gatte gestorben ist?« Imhoff hatte sich inzwischen aufgerichtet und versetzte dem Weinkrug einen Tritt. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich unterwegs besäufst. Schamloses Weib. Komm her und setz dich auf den Gaul. Oder soll ich dich durch den Wald zu deinem Grab tragen?«
44
Es wurde Zeit, dass er den begonnenen Brief an Amalie endlich vollendete. Wolfgang Delius saß seit Stunden an einem Tisch in der Gaststube bei einem Krug Bier, von dem er kaum genippt hatte, und wunderte sich, dass es ihm so schwerfiel, den Heiratsantrag für die Witwe seines Bruders zu verfassen.
Wenn er versuchte, seine tiefen Gefühle zu beschreiben, kam er sich albern und verlogen vor. Andererseits konnte er ihr kaum mitteilen, dass er sie nur deshalb zur Frau zu nehmen beabsichtigte, weil sie im richtigen Moment zur Stelle gewesen war. Natürlich gab es schlechtere Gründe, vor den Traualtar zu treten, aber Wolfgang fand, Amalie habe ein paar schwärmerische Worte verdient. Was hatte ihn eigentlich zu ihr hingezogen? Er entsann sich, dass er sich während Bernhard Ditmolds Lesung anlässlich der letzten Buchhändlermesse für Amalie entschieden hatte. Aber welcher ihrer Vorzüge war ihm damalsins Auge gestochen? Dummerweise erinnerte er sich an nichts, was sie vor anderen Weibern auszeichnete.
Seufzend hob er den Blick von Papier, Feder und Tintenfass. Seine Augen wanderten durch das Wirtshaus, das zu dieser frühen Nachmittagsstunde einen ganz anderen Eindruck vermittelte als am Abend, wenn die Söldner und Freudenmädchen zur vorherrschenden Gästeschar gehörten. Zwei Reisende
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