Die Hüterin des Evangeliums
erleichtert, weil sich das traurige Thema zum Positiven kehrte. »Wenn Sebastians Dichtkunst posthum zu Berühmtheit gelangt, wird er nicht vergessen und sein schriftstellerisches Erbe anerkannt werden.«
Zu spät fiel ihr ein, dass sie inzwischen selbst die Möglichkeit in Händen hielt, Sebastian Rehms Geist über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Sie besaß ein Druckerprivileg und konnte nach Herzenslust jeden Text vervielfältigen, der ihr auf der Seele brannte, was immer der Inhalt war ... Das Strahlen erlosch in ihren Augen.
»Ja, in der Tat, das wäre sehr schön«, bestätigte Martha zögernd.
»Euer Gemahl schrieb mir vor geraumer Zeit«, fuhr Wolfgang Delius fort. »Seine Briefe weckten mein Interesse an seiner Arbeit. Leider habe ich kein Manuskript von ihm gelesen. Wäre es möglich, dass Ihr mir Einblick in seinen Nachlass verschafft?«
»Das kann ich nicht, Herr. Ich bin nicht mehr im Besitz desselben.«
»Seid Ihr denn nicht Rehms Erbin?«, erkundigte sich Ditmold.
»Natürlich ist sie das«, mischte sich Christiane ungeduldig ein. »Meine Cousine übergab den schriftstellerischen Nachlass ihres Gemahls an einen Freund, den bekannten Dichter Georg Imhoff«, ärgerlicherweise errötete sie bei der Nennung dieses Namens. Trotzig fuhr sie fort: »Wir werden ihn verständigen, und dann wird er Euch Einblick gewähren.«
»Ich könnte Herrn Imhoff ein paar Zeilen schreiben«, beschloss Martha unerwartet tatkräftig, sprang auf und wandte sich zum Schreibpult, um nach Papier und Feder zu greifen. »Ich werde ihn bitten, Euch weiterzuhelfen.«
»Ein guter Gedanke«, befand Wolfgang Delius. »Wenn Ihr so freundlich sein wolltet, das Billett zu verfassen, würde ich mich unverzüglich auf den Weg machen.«
Ditmold erhob sich und verneigte sich vor Christiane. »Da nun alles geklärt ist, werden mein Freund und ich Euch nicht weiter behelligen. Ich wünsche Euch alles Gute, Meitingerin.«
Sie lächelte schwach. »Mir scheint, ich kann jeden Zuspruch gebrauchen. Habt vielen Dank für Eure Freundlichkeit.« Wenn er wüsste, fuhr es ihr durch den Kopf. Wenn er nur wüsste ...
21
»Eine ist hübscher als die andere«, murmelte Wolfgang Delius, als er neben seinem Freund Ditmold die sauber gefegte Gasse entlangschritt. Hier türmte sich kein Abfall wie vor der einstigen Wohnstatt von Sebastian und Martha Rehm. Überall waren Abortkehrer damit beschäftigt, die Straße zu reinigen. Seine Stiefel hatten den Besuch bei Christiane Meitinger in deutlich besserer Beschaffenheit überstanden als den in der Unterstadt. Dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass MarthaRehm in den ärmlichen Verhältnissen glücklicher gewesen war. Nicht nur, weil offensichtlich war, dass die tatkräftige Druckerwitwe das Zepter in Meitingers Haus führte und dabei wenig Widerspruch duldete. Er schätzte, dass diese eher eine ungeduldige Natur war, die zu zähmen nur die Aufgabe eines starken Mannes sein konnte ...
»Und wer ist die Eine? Die zarte, schüchterne Martha Rehm oder die kultivierte, energische Christiane Meitinger?«
Wolfgang grinste. »Rate!«
»Woher soll ich wissen, was in dir vorgeht? Ich für meinen Teil würde eine sanftmütige Person vorziehen, aber du spielst gerne mit dem Feuer, nicht wahr?«
»Rötliches Haar besitzen beide ...«
»Gott sei gedankt, dass ich nicht auf der Suche nach einer Frau bin.«
»Das bin ich auch nicht!«, protestierte Wolfgang.
Ditmold verstand sofort. »Amalie?«
»Warum nicht?«
»Das ist eine vernünftige Wahl: Sie ist ansehnlich, kennt sich in deinem Gewerbe aus und ist in keinen Mord verwickelt ...«
»Glaubst du, Christiane Meitinger hat ihren Mann erschlagen?«, fragte Wolfgang verblüfft.
»Temperamentvoll genug wäre sie, denke ich, aber natürlich ist das ausgeschlossen. Eine Frau folgt ihrem Gatten in der Regel nicht heimlich in irgendeinen Wald meilenweit entfernt, um ihm dort den Schädel zu zertrümmern. Giftmorde kommen unter Eheleuten weit häufiger vor.«
Unwillkürlich erbleichte Wolfgang. Sein Freund hatte recht. Christiane Meitinger war über jeden Verdacht erhaben, aber wie stand es um ihre Cousine? Wer garantierte ihm, dass Ditmold nur einen Mord aufzuklären hatte und nicht zwei? Rehm hatte befürchtet, vergiftet zu werden. Tatsächlich warer relativ plötzlich verstorben – an Symptomen, die auch bei Giftmorden zutrafen. Bekanntermaßen konnte niemand einen Mann so einfach ins Jenseits befördern wie eine Ehefrau, die seinen Mahlzeiten eine
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