Die Hüterin des Evangeliums
unverzüglich mein Zimmer.«
»Nicht, bevor Ihr nicht aufgestanden seid!«
Martha schnappte im Hintergrund hörbar nach Luft.
»Solltet Ihr noch einen Funken Einsicht in Eurem Schädel haben«, schleuderte Christiane ihm entgegen, »werdet Ihr auf der Stelle hinausgehen und warten, bis ich Euch zu empfangen geruhe, Herr Delius.«
Er stockte. Natürlich musste er dem Anstand folgen und ihr Zimmer verlassen, doch es bereitete ihm sichtlich Schmerzen, die Niederlage einzugestehen. Viel zu zögerlich trat er den Rückzug an. Er stellte den Leuchter auf der Kommode ab und drehte sich um.
Christiane beobachtete ihn stumm, sah auf Martha, die von ihm fortwich, als sei sie es, die er bedroht hatte. In der offenen Tür blieb Wolfgang Delius stehen.
»Vielleicht werdet Ihr Euch ein wenig beeilen, wenn Ihr erfahrt, dass Euer Lehrling zu Tode gekommen ist. Anton wurde am Abend aus dem Senkelbach gefischt.«
Dann wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes hinaus.
Christianes Hände hatten gezittert, als sie ein Hemd anzog und dann den Hausmantel aus grünem Samt überstreifte, Severins Geschenk zu ihrem Namenstag, der im vorigen Dezember auf die Woche nach ihrer Heirat gefallen war. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Haare aufzustecken. Obwohl es nicht besonders schicklich war, lief sie in diesemAufzug hinunter in Severins Schreibstube, wohin Martha den Besucher gebeten hatte. Es kümmerte sie nicht, was Delius von ihr dachte. Er hatte sich schließlich auch nicht benommen, wie es sich gehörte. Außerdem wollte sie nichts mehr als unverzüglich erfahren, was mit Anton geschehen war.
»Nun?«, fragte sie ohne weitere Einleitung, kaum dass sie das Arbeitszimmer betrat.
Delius setzte den Krug ab, aus dem er gerade getrunken hatte. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Euer Lehrling ist tot«, erwiderte er und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, den Martha ihm mit dem Getränk angeboten hatte. Zorn und Eifer schienen von ihm abgefallen. Auch machte er keine Anstalten, sich beim Eintreten der Dame des Hauses zu erheben. Er wirkte müde und nicht minder erschöpft als Christiane einige Stunden zuvor. Im Gegensatz zu ihr hatte er sicher noch nicht geschlafen, denn unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Als Begleitmusik seines Äußeren drang vom Markt schwach der Glockenschlag herein, den Christiane zwangsläufig mitzählte: Es war eine Stunde vor Mitternacht.
»Das sagtet Ihr bereits«, erinnerte sie und legte Martha die Hand auf die Schulter, die aufstehen und den Platz neben Delius räumen wollte, doch sie fühlte sich wohler, wenn sie sich nicht setzte.
Delius bemerkte diese Geste und murmelte: »Wenn es Euch beliebt, den Überblick zu behalten, soll’s mir recht sein. Aber erwartet bitte nicht, dass ich der Höflichkeit Genüge tue. Meine Beine können mein schmerzendes Kreuz kaum noch tragen.«
»Nach Eurem Benehmen in meiner Schlafkammer erwarte ich nicht allzu viel. Berichtet, was geschehen ist, damit wir diese Unterhaltung beenden können.«
»Der Junge musste sterben, weil Ihr mit der Wahrheit hinter dem Berg haltet«, brauste Delius auf, schien von seinenWorten jedoch gleich wieder erschöpft und sackte mutlos in sich zusammen.
Martha schlug sich die Hand vor den Mund, wie sie es immer tat, wenn das Entsetzen übermächtig wurde.
Christiane indes schluckte schwer. Unwillkürlich flogen ihre Gedanken zu Titus Meitinger. Hatte er eine zweite Schuld auf sich geladen? War dies überhaupt möglich? Im nächsten Moment fiel ihr auf, dass Wolfgang Delius nicht von einem Mord gesprochen hatte. Konnte es sein, dass Anton seine Entlassung nicht klaglos hingenommen, sondern sein Leben ohne die Stellung jeden Sinn verloren hatte?
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Nach außen bewahrte sie Fassung und fragte erstaunlich gelassen: »Wie kommt Ihr zu dieser Behauptung?«
Delius schnaubte verächtlich. »Ich weiß intelligente Frauen durchaus zu schätzen, Meitingerin, aber Ihr treibt es mit Eurem Versteckspiel zu weit. Mir kann es egal sein, ob Ihr Euch selbst in Gefahr bringt. Aber das Ende eines so jungen Lebens ist nicht hinnehmbar.«
Christiane verstand nicht, was er meinte, war aber zu stolz, ihre Begriffsstutzigkeit zuzugeben. Sie war zu sehr damit beschäftigt, über Antons möglichen Selbstmord zu grübeln, um etwas anderes als den Freitod hinter den feindseligen Worten des Verlegers zu erkennen. Wie von undurchdringlichem Nebel war sie von ihrer Betroffenheit eingehüllt. In ihren Gedanken sah
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