Die Hüterin des Evangeliums
weichen, bevor er nicht sicher sein kann, dass seine Liebste auf dem Weg der Besserung ist. Meitinger hätte ihretwegen niemals seine Nachtruhe geopfert,Sebastian hätte sich da schon eher um Martha gesorgt – und Georg Imhoff ...? Ach, zum Teufel mit allen Männern, sie brachten ja doch nur Unglück und Leid über eine Frau.
»Sie schläft«, sagte Christiane, als sie zum fernen Glockenschlag die Tür zu ihrer Schlafkammer hinter sich schloss. »Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich erholt, aber Martha ist zäher, als man meinen möchte.«
Delius nickte. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, und Christiane fiel auf, wie krank er aussah. Sein Gesicht wirkte hager, die Wangen waren eingefallen. Er schien kaum noch die Augen offenhalten zu können.
»Ihr solltet zu Bett gehen«, meinte sie, während sie sich an ihm vorbei zur Stiege drängte, um hinunterzugehen, die Waschschüssel im Abort zu leeren, die sie mit beiden Armen umfasst hielt, und in der Küche zu reinigen. Es waren die Handgriffe einer Magd, aber Christiane war ganz froh, beschäftigt zu sein.
Obwohl sie selbst todmüde war, würde sie keine Ruhe finden, dessen war sie sicher. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Nicht nur für Martha war es ein Schock gewesen, dass Sebastian anscheinend vergiftet worden war, sie litt ganz genauso unter dem gewaltsamen Tod ihres Freundes und Mentors. Revoco. Es war Rehms letztes Wort gewesen. Und Anton hatte die dazugehörenden Bleilettern bei sich getragen. Christiane fühlte sich, als würde sie von den sechs Buchstaben verfolgt.
»Ich gehe nicht«, sagte Delius, ein Gähnen nur mühsam unterdrückend, »wenn Ihr die ganze Nacht zu wachen gedenkt. Es scheint mir niemand sonst im Haus, den Ihr zum Medicus schicken könntet, falls Eure Cousine eines Arztes bedarf.«
»Der Geselle schläft in der Werkstatt«, erwiderte sie überdie Schulter und ohne ihn anzuschauen, da sie ihren Blick auf die Treppe richten musste, um nicht zu stolpern. »Ich kann ihn rufen, wenn’s nötig wäre.«
»Wo ist Euer Schwäher?« Sie hörte an seinen Schritten, dass er ihr folgte.
»Das weiß ich nicht, ich machte einen Besuch, als er ausging. Er verließ wohl gestern Mittag das Haus, und ich nehme an, er hat wegen des Unwetters irgendwo Unterschlupf gesucht. Jedenfalls ist er noch nicht zurück.«
»Und da macht Ihr Euch keine Sorgen?«, rief er entsetzt aus.
Christiane hatte den untersten Treppenabsatz erreicht. Verwundert drehte sie sich zu Delius um, der dicht hinter ihr stehen geblieben war und sie um mindestens einen Kopf überragte. »Warum sollte ich? Er kann doch hingehen, wo immer es ihm beliebt.«
»Kommt es denn öfter vor, dass der alte Mann eine ganze Nacht lang von zu Hause fortbleibt?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Nein, eigentlich nicht ...«, erwiderte sie vage, unterbrach sich jedoch, als ihr bewusst wurde, dass Titus Meitinger vor nicht allzu langer Zeit schon einmal mit unbekanntem Ziel aufgebrochen und erst nach Tagen zurückgekehrt war. Mochte Gott ihm verzeihen, was er in der Zwischenzeit angerichtet hatte. Vor einer Woche wie gestern.
Der gallige Geruch von Marthas Erbrochenem stieg ihr in die Nase, während sie untätig herumstand und mit Delius debattierte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sie sich rasch um und nahm ihren Weg zum Tor wieder auf. Als sie davor angekommen war, registrierte sie dankbar, dass Delius an ihr vorbeitrat und die Tür für sie öffnete.
Es regnete noch, wenn auch nicht mehr so stark. Leichte Tropfen sprühten auf die dunkle Straße. Es war vollkommenfinster, der Mond wurde von den Wolken verdeckt, die Fackeln an den Hauswänden waren längst verglüht oder vom Nachtwächter gelöscht worden. Keine Menschenseele war unterwegs, nicht einmal die Wachen oder Söldner des Reichstags, die sich gelegentlich in die Katharinengasse verirrten, hinter den Fenstern der anderen Häuser brannte kein Licht, überall herrschte schläfrige Stille.
»Meint Ihr nicht, es könnte gefährlich für einen Greis wie Titus Meitinger sein, in einer solchen Nacht alleine unterwegs zu sein?«, insistierte Delius.
Christiane begriff, worauf er hinauswollte. Um Zeit zu gewinnen, kehrte sie ihm den Rücken zu, trat ungeachtet der Tatsache, dass sie nass werden würde, in den Sprühregen hinaus und kippte den Inhalt der Waschschüssel in den Rinnstein. Die kühle Feuchtigkeit tat ihren glühenden Wangen überraschend gut. Sie verharrte einen Moment regungslos, schloss sogar die Augen. Delius
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