Die Hüterin des Schattenbergs
Nächte lang nicht geschlafen hatte.
»Müde?«, hörte sie Rik fragen.
»Nein.« Jemina war erstaunt, wie mühelos ihr die Lüge über die Lippen ging, obwohl sie ihr ganzes Leben lang noch nie gelogen hatte. »Und du?«
»Ja, doch.« Rik gähnte schon wieder. »Ich würde zu gern ein wenig schlafen.«
»Schlaf nur. Ich achte auf das Feuer.« Jemina versuchte, sich die eigene Erschöpfung nicht anmerken zu lassen. »Und keine Sorge, ich wecke dich, wenn wir Besuch bekommen.«
Die Nacht musste weit vorangeschritten sein, als Jemina aus dem Schlaf aufschreckte. Das Feuer war fast heruntergebrannt und die Glut spendete nur noch wenig Licht. Mit angehaltenem A tem lauschte sie in die Dunkelheit hinein. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, auch nicht, um Rik zu wecken, der mehr als eine A rmeslänge entfernt neben ihr schlief.
Knack .
Jemina zuckte zusammen. Jemand oder etwas näherte sich. Suchend bewegte sie ihre Hand über den Boden, bis die Fingerspitzen den langen A st berührten, dessen Spitze sie für diesen Fall in die Glut gelegt hatte. Er taugte nicht wirklich dazu, sich zu verteidigen, war aber besser, als gar nichts in den Händen zu halten. A ls sich ihre Hand um den A st schloss, glaubte sie, ganz in der Nähe verhaltene A temzüge zu hören. Ihr Herz raste. Doch obwohl all ihre Überlebensinstinkte gleichzeitig aufkreischten und sie zur Flucht drängten, blieb sie ruhig liegen und tat, als würde sie schlafen.
Der rötliche W iderschein der Glut auf blankem Metall, den sie kurz darauf aus dem A ugenwinkel wahrnahm, verriet ihr endlich, von wo sich der A ngreifer näherte. Sie umfasste den A st fester und machte sich bereit. Langsam zählte sie in Gedanken bis drei, dann kam sie mit einer ansatzlosen Bewegung auf die Beine, streckte dem A ngreifer das glühende Ende des A stes entgegen und rief: »Wage es nicht, näher zu kommen!«
»Nicht schlecht, Mädchen.« Salvias trat aus dem Dunkeln. Er hatte sein Schwert gezogen; der Schein der Flammen tauchte sein höhnisch grinsendes Gesicht in ein dämonisches Licht. »Das ist ja wirklich eine gefährliche W affe, die du da hast. Soll ich mich jetzt fürchten?«, zischte er mit einem spöttischen Blick auf den armlangen A st, an dessen Spitze die Glut ohne das nährende Feuer immer schwächer wurde. »Wenn ja, muss ich dich leider enttäuschen.« Eine schnelle Bewegung seines Schwertes trennte die glühende Spitze des A stes ab. »Wie schade«, sagte er in gespieltem Bedauern, »jetzt hast du nichts mehr, das dich schützen könnte.«
»Falsch, sie hat mich.« Plötzlich stand Rik neben Jemina. Salvias ließ ihm keine Chance. Ein gut gezielter T ritt gegen den Oberkörper ließ die Luft pfeifend aus Riks Lungen entweichen und schickte ihn zu Boden.
»Das nächste Mal solltest du dir deinen Beschützer wirklich besser aussuchen«, sagte Salvias mit einem verächtlichen Blick auf Rik, der zusammengekrümmt und schwer atmend neben dem Feuer lag. »Der hier taugt höchstens zum Stiefelputzen.« Er grinste. »Schade nur, dass es kein nächstes Mal geben wird, denn dein W eg endet genau hier und jetzt.«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.« Jemina kämpfte darum, sich die Furcht nicht anmerken zu lassen. A lles hing jetzt davon ab, dass Salvias ihren W orten Glauben schenkte.
»So?« Salvias’ Grinsen wurde eine Spur breiter. »Und was sollte mich davon abhalten?«
»Das hier!« Jemina griff in die T asche ihres Gewandes, holte den grauen Stein daraus hervor und hielt ihn so, dass Salvias ihn sehen konnte.
»Ein Stein?« Salvias sah aus, als würde er jeden A ugenblick laut loslachen.
»Das ist kein Stein«, erklärte Jemina mit fester Stimme. »Das ist das Buch des Lebens.«
Salvias sagte nichts. In seinem Gesicht arbeitete es. Jemina spürte, dass ihr die Überraschung gelungen war. Der A nfang war gemacht, aber noch hatte sie nicht gewonnen.
»Gib ihn mir!« Salvias streckte ihr befehlend die Hand entgegen.
»Nein!« Jemina schloss die Finger fest um den Stein und presste ihn an sich. »Die W ächter der Hohen Feste haben bestimmt, dass ich ihn Corneus übergeben soll. W enn ein anderer den Stein berührt, zerfällt er zu Staub.«
»Du … du lügst doch.« Nun war es Salvias, der darum rang, selbstsicher zu klingen.
»Du weißt, dass sie nicht lügen kann.« Rik hatte sich aufgerappelt und stand gekrümmt neben Jemina. Die Hände hatte er vor dem Bauch verschränkt. Das Sprechen bereitete ihm offensichtlich große Schmerzen,
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