Die Hüterin des Schattenbergs
erfolgung genommen hatte, nicht behagte. A ber die Furcht, Schuld am V erlust des wichtigsten Zauberbuches von Selketien zu sein und Corneus’ Zorn auf sich zu ziehen, war größer.
Ein dünnes Lächeln umspielte Jeminas Mundwinkel, als sie sich Salvias’ Gesichtsausdruck vorzustellen versuchte, sobald er erkannte, dass er einer Lüge aufgesessen war. Nicht die W ahrheit sagen zu müssen war eine befreiende und aufregende Erfahrung. Die Möglichkeiten, die sich damit eröffneten, erschienen ihr geradezu unerschöpflich, auch wenn sie wusste, dass es eine Grenze gab, die sie niemals überschreiten würde. Dennoch: Je länger sie in sich hineinhorchte, je mehr sie sich der V eränderung ihres Selbst bewusst wurde, desto mehr erkannte sie auch die Grausamkeiten, die Orekhs Magie ihr und allen anderen in Selketien angetan hatten. Es war, als hätte sie ihr Leben lang nur mit einem A rm gelebt, ohne sich der Einschränkungen bewusst zu sein, die der fehlende A rm ihr auferlegte. Erst jetzt, da sie wieder mit ihrer dunklen Seite vereint war, wurde sie sich der erlittenen V erstümmelung bewusst.
Versonnen beobachtete sie, wie sich die Farbe des Himmels im Osten von Grau zu Hellblau wandelte. Sie hatte die Sonne in ihrem Leben schon oft aufgehen sehen, aber dies war das erste Mal, dass sie einen Sonnenaufgang so bewusst wahrnahm. Sie stellte erstaunt fest, dass er nicht allein von Rottönen geprägt war.
Wie viel Neues gibt es wohl noch zu entdecken?, dachte sie bei sich und schaute zu Rik hinüber, der mit dem Kopf gegen den Rücken des Drachenreiters gelehnt saß und vermutlich eingeschlafen war. Es war ein seltsames Bild, immerhin hatte der Drachenreiter Rik noch vor Kurzem töten wollen. Nun gab er Rik Halt, als wären sie die besten Freunde.
Ohne die kleine Lüge mit dem Stein wäre all das nicht möglich gewesen, dachte Jemina und war rückblickend fast ein wenig stolz auf sich.
Aber wie sollte es weitergehen?
Wohl schon zum Hundersten Mal stellte Jemina sich diese Frage und zum Hundertsten Mal fand sie darauf keine A ntwort. W enn sie die Feste der Magier erreichten, würden die Drachenreiter sie unverzüglich zu Corneus bringen, so viel war klar. Sicher war auch, dass Salvias sie auf dem W eg nicht eine Minute aus den A ugen lassen würde. Sie brauchte also gar nicht auf eine Fluchtgelegenheit zu hoffen. Zusammen mit Rik würde sie vor Corneus treten und – ja, und was dann …?
Jemina spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
Was dann? Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, was geschehen würde, stockte ihr Gedankenfluss genau an dieser Stelle – weil sie wusste, dass der Schwindel in ebendiesem A ugenblick auffliegen würde. Spätestens wenn Corneus von ihr den Beweis verlangte, dass sich hinter dem Stein wirklich das verzauberte Buch des Lebens verbarg, würde sie zugeben müssen, gelogen zu haben.
»… Nun wisst Ihr alles, was ich Euch erzählen kann.« Jordi nahm einen tiefen A temzug, fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und griff nach dem silbernen Pokal mit W asser, den Meister Elaries ihm gegeben hatte. Furcht spürte er keine mehr. Im Gegenteil. Meister Elaries machte keinen Hehl daraus, dass er kein Freund des Meistermagiers war. Darüber hinaus hatte der betagte Magier etwas an sich, was Jordi an seinen Großvater erinnerte, den er noch schmerzlicher vermisste als seine Eltern. Dies und die T atsache, dass er im Stillen die Hoffnung hegte, der Magier könnte einen W eg finden, ihm das Leben zu retten, hatten dazu geführt, dass er sich Elaries ohne Scheu anvertraut und ihm lückenlos alles erzählt hatte, was seit dem T od der Hüter geschehen war. Nun wartete er gespannt, was Elaries sagen würde.
Der Magier ließ sich Zeit. Endlose Herzschläge lang starrte er in die Flammen des Kaminfeuers, den Blick weit in die Ferne gerichtet, als ob es hinter dem Feuer etwas zu sehen gab, das Jordi verborgen blieb. »Und?«, fragte Jordi nach einer W eile. »Was wollt Ihr jetzt tun?«
»Nichts.«
»Nichts?« Jordi starrte den alten Magier verwirrt an.
»Ich billige Corneus’ V orgehen natürlich nicht.« Elaries seufzte. »Es ist aufs Schlimmste verwerflich, dass er den Niedergang des Hüterzirkels selbst vorantreibt, um seine Pläne zu verwirklichen. A ber ich fürchte, es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Deinen W orten nach zu urteilen, ist Jemina vermutlich längst tot. A ber niemand außer ihr – von Corneus mal abgesehen – könnte die Schatten noch
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