Die Hüterin des Schattenbergs
auszuhalten war, stieß Ulves einen kurzen Ruf aus und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. A lle anderen taten es ihm gleich. Durch den plötzlichen Laut löste sich das magische Leuchten von der Menschenmenge, ballte sich rings um Ulves zusammen und schoss dann durch dessen Körper als gleißender Lichtstrahl zu den Sternen hinauf.
Jemina zuckte zusammen, als sie den Zeremonienmeister in den gleißenden Sturm aus Licht gehüllt am Brunnen stehen sah, aber der A nblick blieb nur für wenige Herzschläge bestehen. Dann zerbarst der Lichtstrahl hoch oben über ihren Köpfen vor dem nächtlichen Himmel in einem funkelnden Sternenregen. Ein ehrfürchtiges Raunen lief durch die Menge, als A bermillionen winziger Funken über der Feste niedergingen und diese in ein verwunschenes, rotgoldenes Licht tauchten. Die Eleven standen mit offenen Mündern da und auch Jemina starrte fasziniert nach oben. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.
Dann war es vorbei. Dunkelheit hüllte den Platz ein, der nun wieder allein von den Flammen der Fackeln und Feuerkörbe erhellt wurde. Jemina sah, wie Ulves schwankte, und wollte ihm zu Hilfe eilen, aber der Zeremonienmeister überwand den A ugenblick der Schwäche und sagte mit fester Stimme: »Ich rufe nun die Novizin Jemina zu mir, deren außergewöhnlicher Mut in der Geschichte Selketiens seinesgleichen sucht. Um Selketien vor den Schatten zu bewahren, zögerte sie nicht, ihr Leben hinzugeben, um im Reich der A hnen nach dem W issen zu forschen, das die Hüter mit in den T od genommen hatten. Ihr Mut wurde mit Erfolg belohnt. Obwohl sie keine Magierin ist, ist es ihr mithilfe eines mächtigen Zaubers gelungen, aus dem T otenreich ins Leben zurückzukehren, um das verlorene W issen hier und heute an jene weiterzugeben, die von nun an als Hüter des Neunten Zirkels über Selketien wachen werden.« T osender Beifall zerriss die Stille auf dem Platz, als er Jemina zu sich winkte.
Unsicher, was sie tun sollte, warf Jemina Rik einen Blick zu. A ber der nickte nur ernst und raunte ihr zu. »Nun geh schon!« Zögernd trat Jemina aus dem Schatten der Bogengänge in die von Fackelschein erhellte Gasse hinaus. Sie hatte geglaubt, dass alle Eleven gemeinsam zum Brunnen gehen würden. Nun war sie allein.
Schon nach den ersten Schritten wäre sie am liebsten wieder umgekehrt, denn der Jubel gewann noch einmal an Kraft. Sie glaubte, die Blicke Hunderter A ugenpaare wie eine drückende Last auf sich zu spüren. Haltsuchend drehte sie sich noch einmal zu Rik um, der ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und ging weiter.
Sie spürte die A ngst mit jeder Faser ihres Körpers und horchte in sich hinein. W as sie fand, war ein ihr unbekanntes Gefühl. A nders als die lähmende Furcht vor der T iefe, die sie auf der langen T reppe zur Hohen Feste begleitet hatte, und auch anders als das namenlose Entsetzen, das sie auf ihrer Reise in die W elt der A hnen verspürt hatte. Es war die A ngst, die ein Dieb spüren mochte, bevor er fremdes Eigentum an sich nahm, dieselbe A ngst, die Rik vielleicht schon sein halbes Leben lang begleitete, erfüllt von dem W issen, etwas V erbotenes zu tun und der Sorge, dabei erwischt zu werden. Jemina hasste dieses Gefühl, aber noch mehr kämpfte sie darum, es sich nicht anmerken zu lassen. Mit unbewegter Miene schritt sie durch die jubelnde Menge und hoffte, dass man ihre Zurückhaltung als Scheu auslegen würde.
Als sie Ulves erreichte, umarmte dieser sie feierlich und drehte sie so, dass die jubelnde Menge sie ansehen konnte. Der Zeremonienmeister stellte sie den Umstehenden noch einmal vor, indem er kurz ihre Heldentaten lobte. Dann hob er die A rme, bat um Ruhe und fragte Jemina: »Bist du bereit?«
Jemina biss sich auf die Unterlippe und nickte. A us den A ugenwinkeln entdeckte sie Corneus, der in der Mitte der Ratsmitglieder auf einem der wenigen Stühle in der ersten Reihe saß. Der Meistermagier jubelte nicht. W ie die anderen Ratsmitglieder trug er passend zur kostbaren Robe eine würdevolle Miene zur Schau, aber da war etwas in seinem Blick, das bei den anderen fehlte. Hastig blickte sie zu Boden, als Ulves die Eleven zu sich rief.
Die neun Halbwüchsigen wurden in einer kleinen feierlichen Prozession zum Brunnen geführt. Zwei angehende Magier schritten vorweg, zwei weitere bildeten den Schluss. A m Brunnen angekommen, stellten sich die Eleven in einer Reihe vor Jemina und Ulves auf.
Gleich ist es so weit!
Weitere Kostenlose Bücher