Die Hüterin des Schattenbergs
er nichts.
»Ich habe die Hüter gestern A bend zum letzten Mal gesehen, als sie die Insel verließen.« Jemina wirkte nachdenklich. »Efta sagte, sie würden bei Sonnenaufgang zurückkehren, um mich zu holen, aber sie sind nicht gekommen.«
Wieder schallte das Hornsignal durch den Nebel. Rik gab einen ärgerlichen Laut von sich, tauchte das rechte Ruder tief ins W asser und vollführte mit dem linken eine gegensätzliche Bewegung.
»Was ist?«, wollte Jemina wissen.
»Wir sind vom Kurs abgekommen«, erklärte Rik. »Das Hornsignal ist zu weit rechts. Es müsste direkt vor uns sein.« Er ruderte nun wieder gleichmäßig und lauschte in Nebel und Dunkelheit hinaus. Froh, einen V orwand zu haben, das beklemmende T hema zu beenden, sagte er: »Es ist besser, wenn wir jetzt nicht mehr reden.«
Jemina nickte. Ihr Gesicht wirkte im Nebel erschreckend blass. Sorge umgab sie wie ein unsichtbarer Mantel. Zweimal noch musste Rik auf dem Rückweg die Richtung ändern, weil er vom Kurs abgekommen war. Schließlich entdeckte Jemina in der Ferne einen Feuerschein. »Sieh nur, sie haben ein Feuer entzündet, um uns den W eg zu weisen«, sagte sie und deutete voraus. Sie hatte sich nicht getäuscht. Nur wenige Herzschläge, nachdem sie das Feuer entdeckt hatten, glitt der Rumpf des Bootes knirschend auf den steinigen Untergrund nahe dem Lagerplatz.
»Rik! Den Göttern sei Dank!« Jordi war sofort am Boot. Das Signalhorn hielt er noch in der Hand. »Du hast Jemina gefunden.« Er strahlte über das ganze Gesicht, wurde aber gleich wieder ernst. »Was ist mit den Hütern?«
»Wir wissen es nicht«, gab Jemina an Riks Stelle A uskunft. »Sie wollten mich heute Morgen abholen, aber sie sind nicht gekommen.«
»Ist ihnen etwas zugestoßen?«, fragte einer der Eleven, die das Boot inzwischen umringten.
»Das glaube ich nicht.« Rik schüttelte den Kopf. »Der W eg zur Insel ist weit und in dem dichten Nebel nur schwer zu finden. V ielleicht haben sie sich verirrt.« Er war ein ziemlich hilfloser Erklärungsversuch, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
»Dann würden sie doch sicher rufen, damit wir ihnen ein Hornsignal senden«, wandte Jordi ein. »Oder sie wären dem Signal so wie du gefolgt und längst hier.«
Jemina warf Rik einen Blick zu. »Vielleicht sind sie auch an einer anderen Stelle auf die Insel gekommen und suchen nun nach mir«, kam sie ihm zu Hilfe. »Ich wusste nicht, wo ich auf sie warten sollte und bin zur Bucht zurückgegangen. V ielleicht war das ein Fehler.«
»Wir sollten bis morgen warten«, schlug Rik vor. Er sprang aus dem Boot und zog es weit auf den Ufersand hinauf, damit Jemina aussteigen konnte. »Wenn sie auf der Insel sind und Jemina nicht finden, werden sie zurückkommen, sobald es hell wird.«
Entschlossen machte er sich auf den W eg ins Lager. Jordi wich nicht von seiner Seite. »Und wenn sie nicht zurückkommen?«, raunte er Rik zu.
Rik seufzte und legte Jordi kameradschaftlich den A rm um die Schultern. »Sie kommen zurück!«, sagte er so zuversichtlich, wie es ihm möglich war. »Ganz bestimmt.«
7
N atürlich wollten alle von Jemina wissen, wie es ihr bei der Prüfung ergangen war, als sie wenig später um das Feuer am Lagerplatz versammelt saßen. Die Fragen waren eine willkommene A bwechslung von der Sorge um die Hüter, die alle Eleven bewegte.
»Wie sehen die Nerbuks aus?«
»Was haben sie von dir verlangt?«
»Waren die Prüfungen schwer?«
»Hast du bestanden? Bis du jetzt eine Novizin?«
Jemina tat sich mit den A ntworten schwer. Gern hätte sie ihr W issen preisgegeben, aber sie fürchtete, den anderen dann auch von dem seltsamen T raum in den frühen Morgenstunden erzählen zu müssen, der ihr den T od aller Hüter gezeigt hatte, und das wollte sie nicht.
Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie sich ausmalte, welche Folgen der T od aller Hüter haben würde. W as würde aus den Schatten im Berg werden, wenn die Magie der Hüter versiegte? W ürden sie sich befreien und das Land ins Unglück stürzen, so wie es vor Orekhs Herrschaft der Fall gewesen war? W ürde es wieder Hass, Neid, Missgunst und Krieg geben?
Und wie würde es sein, wenn die Schatten in ihre Körper zurückkehrten? Efta hatte stets behauptet, dass man dann dem W ahnsinn verfiel. Davor fürchtete sich Jemina am meisten. Je mehr die furchtbaren Gedanken sie gefangen nahmen, desto weniger war sie in der Lage, den Gesprächen der anderen zu folgen. A m Ende entschuldigte sie sich mit der A usrede,
Weitere Kostenlose Bücher