Die Hüterin des Schattenbergs
erschöpft zu sein, suchte ihr Lager auf und tat, als würde sie schlafen.
Nach und nach legten sich auch die anderen schlafen. Es wurde ruhig am Feuer. Rik schien sich als Ältester den anderen verpflichtet zu fühlen, denn er blieb am längsten wach. Jemina sah, wie er die Glut schürte und neues Holz nachlegte, damit das Feuer bis zum Morgen brannte. Lange saß er noch davor und starrte in die Flammen, die das Holz zu verzehren begannen. Jemina beobachtete ihn unauffällig. Den ganzen A bend hatte er sich zuversichtlich gegeben und die jüngeren Eleven getröstet. A ber hinter der Maske aus Hoffnung glaubte sie zu erkennen, dass auch ihn etwas bewegte, was er den anderen nicht preisgab.
Leise schlug sie die Decke zurück, richtete sich auf und ging zum Feuer, immer darauf bedacht, die anderen nicht zu wecken.
»Jemina?« Rik bemerkte sie erst, als sie sich neben ihn setzte. »Ich dachte, du schläfst.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Jemina wahrheitsgemäß.
Rik nickte und seufzte: »Ich auch nicht.«
»Ich weiß.« Jemina schenkte ihm ein Lächeln. »Ich beobachte dich schon eine ganze W eile.«
»Oh.« Er schaute kurz auf, starrte dann aber wieder in die Flammen.
»Es ist bewundernswert, wie du die Kleinen tröstest«, lobte Jemina. »Ich könnte das nicht.«
»Warum nicht? Es ist wichtig, dass sie schlafen und sich keine Sorgen machen.«
Jemina verzichtete auf eine A ntwort. Sie wollte nicht länger dem eigentlichen Problem ausweichen, schaute Rik direkt in die A ugen und fragte geradeheraus. »Was weißt du?«
»Was alle wissen.« Die A ntwort kam Rik so glatt über die Lippen, als hätte er sie einstudiert.
»Ich glaube, du weißt mehr.«
»Und wenn es so wäre?«
Jemina zögerte kurz. »Dann möchte ich es wissen. W eil auch ich glaube, mehr zu wissen.«
»Erzähl mir davon.« Das plötzliche Interesse, das in Riks A ugen aufflackerte, zeigte Jemina, dass sie auf dem richtigen W eg war.
»Du zuerst«, sagte sie bestimmt.
Rik schaute sie prüfend an. »Also gut«, sagte er schließlich mit einem Seufzen. »Morgen früh werde ich es den anderen sowieso sagen, wenn die Hüter bis dahin nicht zurück sind.« Er machte eine kurze Pause, beugte sich Jemina zu und flüsterte: »Ich habe heute A bend den Umhang eines Hüters aus dem See gefischt. Das war auch der Grund, warum ich mit dem Boot zur Insel gefahren bin.«
»Oh Schatten!« Jemina war überrascht, wie sehr die W orte sie erschütterten, obwohl sie mit so etwas gerechnet hatte. »Das ist furchtbar, aber es passt zu dem T raum, den ich auf der Insel hatte.«
»Ein T raum?« Nun war Rik es, der sie aufmerksam anschaute und auf eine Erklärung wartete.
»Zumindest dachte ich lange, dass es ein T raum sei. A uf der Insel war ich davon überzeugt, dass die Bilder T eil einer Prüfung wären, aber jetzt …« Jemina verstummte abrupt, als ihr klar wurde, dass sie den Hütern ihre Hilfe versagt hatte, weil sie geglaubt hatte, noch geprüft zu werden. Mehr denn je wurde ihr bewusst, dass sie eine große Schuld auf sich geladen hatte, obwohl ihr der T raum nicht erlaubt hatte, aufzuwachen.
»Was hast du gesehen?« Rik schaute sie auf eine W eise an, die deutlich machte, dass er auf das Schlimmste gefasst war.
»Ich habe sie gesehen«, Jeminas Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als sie in das Feuer blickte und sich die schrecklichen Bilder der vergangenen Nacht noch einmal in Erinnerung rief. »Ich sah sie sterben – und ich konnte ihnen nicht helfen.«
»Wie?« Rik umfasste ihren A rm so fest, dass Jemina zusammenzuckte. »Wie ist es geschehen? W as weißt du?«
»Es geschah auf dem W eg zur Insel.« W ährend sie sprach, sah Jemina die Bilder so deutlich vor sich, als würde es gerade erst geschehen. »Eine Hüterin, ich glaube, es war Mascha, schien plötzlich Schmerzen zu haben. Die anderen wollte ihr helfen …«
Stockend berichtete Jemina Rik, was sie gesehen hatte. Immer wieder musste sie unterbrechen, denn nun, da sie wusste, dass alles W irklichkeit gewesen war, wurde sie von schrecklichen Schuldgefühlen gequält.
»Ich … ich dachte wirklich, dieser T raum sei ein T eil der Prüfung«, sagte sie, nachdem sie geendet hatte. »Dabei hätte ich sie vielleicht retten können, wenn ich mich zum A ufwachen gezwungen hätte. A ber ich … ich habe nur zugesehen und es nicht einmal versucht.« Sie schluchzte leise.
»Dich trifft keine Schuld!« Rik legte ihr tröstend den A rm um die Schultern. »Es war ein Unfall. Solche Dinge
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