Die Hüterin des Schattenbergs
die T ore der Feste der Magier bringen würde.
Während Rik ruderte, saß Jemina am Bug und starrte so angestrengt in den Nebel hinaus, als könnte sie die Sonne damit herbeilocken. A ls sie kurz darauf endlich den Nebel durchbrach, war es, als hätte jemand einen V orhang zur Seite gezogen.
Jemina blinzelte und schloss geblendet die A ugen. Hinter sich hörte sie die anderen aufkeuchen. Nach der langen Zeit im Halbdunkeln war niemand auf die plötzliche Helligkeit vorbereitet. Die W ärme hingegen tat gut. Jemina fühlte sich wie neugeboren.
Als ihre A ugen sich an das Licht gewöhnt hatten, betrachtete sie voller Staunen die Landschaft, die sich ihr zu beiden Seiten des Flusses zeigte. Mit Efta hatte sie in einem hügeligen, dicht bewaldeten Landstrich gelebt, in den der Stille Fluss sein Bett gegraben hatte. Schattige W älder mit grünen Lichtungen auf sanft gewellten Hügeln hatte sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Sie hatte wie selbstverständlich angenommen, dass es in ganz Selketien so aussah. Nun musste sie erkennen, dass sie sich getäuscht hatte.
Zwar wuchsen auch hier vereinzelt W eiden am Ufer, die ihre Zweige weit über den Fluss breiteten, aber das Land dahinter war flach und über und über mit zartgrünen Büschen, Gräsern und bunten Blumen bewachsen. Jemina hatte das Gefühl, bis zum Horizont sehen zu können und wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte.
»Schön nicht?« Rik schien ihre bewundernden Blicke zu bemerken.
»Hmmm.«
»Ich liebe das Grasland im Frühling ganz besonders. Die vielen Blumen und das frische Grün. Im Sommer sind die Gräser oft braun und trocken.«
Jemina antwortete nicht. Sie versuchte, sich das Land im Sommer vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. So genoss sie den überwältigenden A nblick, bis Rik sie bat, die Ruder zu übernehmen, weil er sich ausruhen wollte.
Jemina ruderte bis weit in den A bend hinein. Unter den wärmenden Strahlen der Sonne fiel ihr das Rudern viel leichter, und weil sie in der Umgebung ständig etwas Neues entdeckte, verging die Zeit wie im Flug. Mal waren es Rinder, die am Fluss standen um zu saufen, mal ein Rudel Rehe, die sich am frischen Grün der W iesen gütlich taten. A uch kleine Bauernhäuser und Fischerhütten sah sie, und einmal begegnete ihnen sogar ein Fischer, der mit seinem Boot dicht am Schilf ankerte, die Netze einholte und ihnen verwundert hinterherschaute.
Als es dunkel wurde, hatte Rik ausgeschlafen. »Jetzt rudere ich wieder.« Er warf Jemina ein Lächeln zu, das mit dem Licht der untergehenden Sonne um die W ette strahlte. »Dann kannst du schlafen.«
Jemina spürte eine leichte Röte in den W angen. Hastig stand sie auf und machte die Ruderbank für Rik frei. Ihre Hände schmerzten. A ls sie ihre Handflächen besah, entdeckte sie mehrere Blasen, die beim Rudern aufgeplatzt waren. V orsorglich strich sie etwas von Eftas Heilsalbe darauf, damit die Stellen sich nicht entzündeten. Noch war ihre Reise nicht zu Ende und sicher würde sie Rik am nächsten Morgen noch einmal ablösen müssen.
»Wie lange fahren wir noch?«, fragte Jordi, den ganz ähnliche Gedanken zu bewegen schienen.
»Morgen Nachmittag müssten wir das Dorf erreichen, wo wir an Land gehen«, antwortete Rik. »Versucht zu schlafen. W ir haben es bald geschafft.«
Jemina suchte im Boot nach einem geeigneten Schlafplatz, was nicht einfach war. A ls sie dann endlich in eine Decke gehüllt auf dem Boden lag und nach oben schaute, war alle Müdigkeit vergessen.
Was für ein Sternenhimmel! Der A nblick raubte ihr den A tem. Der Mond war noch nicht aufgegangen und so konnte sie die vielen Tausend Lichter am Himmel, von denen sie daheim immer nur einen kleinen T eil gesehen hatte, in ihrer ganzen Pracht bewundern. W ie lange sie so dalag und die Sterne betrachtete, konnte sie später nicht sagen. Die Stille ringsumher, das leise Platschen, mit dem die Ruder ins W asser tauchten, und das sanfte Schaukeln, ließen sie schläfrig werden. A ls der Mond wenig später sein A ntlitz über das Grasland erhob, war sie bereits fest eingeschlafen.
Das Buch
des Lebens
1
D er Bote kam im Morgengrauen. Der scharlachrote Umhang wies ihn schon von W eitem als einen A ngehörigen der Schattenberggarde aus. Die geschwächten Bewegungen seines Pferdes verrieten, dass er den weiten W eg aus den Bergen ohne Pause zurückgelegt hatte.
Inerias, ein junger Magier ersten Grades, der an diesem Morgen die W achfeuer auf den Zinnen der Feste löschte, sah ihn kommen
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