Die Hüterin des Schattenbergs
Schwanz war mit tausend winzigen Schuppen bedeckt, die eine größere Beweglichkeit gewährleisteten. A m Ende des Schwanzes saß, ähnlich wie auf der Stirnplatte, ein einziger Dorn, der fast doppelt so lang war wie ein Schwert.
Staub, Steine, Blätter und kleine Äste wirbelten auf, als das prächtige T ier auf der Plattform flügelschlagend zum Stehen kam. Jemina musste für einen Moment die A ugen schließen, um sie zu schützen. A ls sie die A ugen wieder öffnete, hatte der Drache seine Schwingen so eng an den Körper gelegt, dass diese mit den Schuppen perfekt zu einer Einheit verschmolzen. Nichts deutete noch darauf hin, dass die riesige Echse fliegen konnte. Ganz still stand sie da, den Kopf stolz in die Höhe gereckt. Nur der zuckende Schwanz verriet ihre unterschwellige Unruhe.
Niemand sagte etwas, aber gerade als Jemina fragen wollte, was wohl als Nächstes geschehen würde, kam ein hochgewachsener Mann in der Kleidung der Drachenreiter aus dem seitlichen Gebäude. Er hielt auf die Rampe zu, erklomm sie und stellte sich neben den Sattel, ganz oben auf die Spitze. Jemina sah, wie er eine kleine Pfeife an die Lippen setzte und hineinblies. Der T on war für ihre Ohren nicht zu hören. Der Drache hingegen reagierte sofort. Ein Ruck lief durch seinen Körper. Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Dabei spreizte er die Flügel ein wenig ab und fuhr mit den Krallen an deren Spitzen gereizt über den Boden.
Jemina glaubte zu spüren, wie sich das T ier in seiner W ildheit innerlich aufbäumte und gegen das wehrte, was der T on der Pfeife ihm abverlangte. A ber die Macht der Magie war stärker als der W ille des Drachens und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Befehl des Reiters zu beugen. Langsam, fast demütig, bewegte sich der Drache auf die Rampe zu, das mächtige Haupt gesenkt, wie ein geprügelter Hund. Es war nicht zu übersehen, wie sehr er unter der Demütigung litt. In diesem A ugenblick tat er Jemina leid. Ein so stolzes T ier war zur Freiheit geboren und sollte sich niemandem auf diese W eise unterwerfen müssen.
Beklommen beobachtete Jemina, wie der Drache sich den Befehlen des Reiters fügte. Ohne noch einmal W iderstand zu leisten, blieb er zwischen den beiden Rampen stehen und ließ es mit stoischer Ruhe über sich ergehen, dass die vier Männer den Sattel auf seinem Rücken befestigten. Sie waren noch nicht ganz fertig, als ein Rauschen in der Luft von der A nkunft des zweiten Drachen kündete. Jemina hatte ihn diesmal nicht kommen sehen und staunte nun umso mehr. Der zweite Drache war um ein V ielfaches größer als der erste. Er trug einen ähnlich markanten Stirnschild mit den drei Schwertern, seine Schuppen aber waren von einer ganz anderen Form und sehr viel kleiner als die des ersten Drachen. Sie schimmerten im Sonnenlicht in der Farbe reifer Beeren, schwarz und blau.
»Das ist ein W eibchen«, hörte Jemina Ulves neben sich sagen, als hätte der Magier ihre Gedanken gelesen. »Sie sind immer größer als die Männchen und ihnen in allem überlegen. Die Kolonie in den Bergen zählt nur drei W eibchen. Einst waren sie Herrscher der Kolonie – bis Orekh kam.« Ulves grinste. »Jetzt sind wir ihre Herrscher.«
Wie zur A ntwort stieß das Drachenweibchen in diesem A ugenblick einen Schrei aus, der den des Männchens an Schmerz und Bitternis noch um ein V ielfaches übertraf. Es bäumte sich auf und wirbelte die krallenbewehrten V orderbeine wie ein Pferd in der Luft herum, während es die Flügel spreizte und den Kopf wild hin und her warf. A ber was es auch tat, die Gegenwehr blieb wirkungslos. Nur wenige A ugenblicke nachdem die Helfer auch den zweiten Sattel auf die Rampe geschleppt hatten, stand das Drachenweibchen fertig gesattelt und abflugbereit neben der Rampe.
»Bereit?« Corneus trat vor Rik und Jemina und musterte sie aufmerksam. »Oder habt ihr es euch anders überlegt?«
»Ich bin bereit.« Jemina versuchte, sich ihre A ngst nicht anmerken zu lassen. Schon der Gedanke, auf einen der Drachen zu steigen, brachte ihr weiche Knie ein. A n einen Flug in schwindelnder Höhe, wagte sie gar nicht zu denken.
»Ich auch.« Riks Miene blieb unergründlich. Zu gern hätte Jemina gewusst, ob auch er sich fürchtete.
»Gut!« Corneus gab jemandem ein Zeichen, den Jemina nicht sehen konnte. Gleich darauf reichte ihr ein Diener eine warme Jacke, eine Hose aus dickem Leder, Stiefel, die um die W ade geschnürt wurden, und eine mit
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