Die Hüterin des Schattenbergs
Fell gefütterte Mütze, deren Ohrenklappen unter dem Kinn mit einem breiten Lederband zusammengebunden wurden. »Zieht das an!«, sagte Corneus und deutete zum Himmel hinauf. »Da oben ist es kalt.«
Jemina hatte noch nie so wunderbar warme und sorgfältig gearbeitete Kleidung getragen. Obwohl es viel zu warm war, kam sie der A ufforderung gehorsam nach. Selbst Rik kleidete sich widerspruchslos an.
Eingepackt wie im W inter machten die beiden sich auf den W eg zu den Drachen, auf deren Rücken die Reiter sie schon erwarteten. Eine Leiter, die von zwei Helfern gehalten wurde, erlaubte es Jemina, den riesigen Leib des Drachenweibchens zu erklimmen, während Rik zu dem Männchen ging. Oben angekommen, stellte Jemina erleichtert fest, dass der Sattel zwei hintereinander angeordnete Plätze besaß, dazu jede Menge Riemen und Gurte, die dazu dienten, die Reiter auch bei plötzlichen Flugmanövern im Sattel zu halten.
Der Drachenreiter stellte sich ihr als Salvias vor. Er war deutlich älter als Jemina und von kräftiger Statur. Seine Gesichtszüge mit den eng zusammenstehenden A ugen wirkten nicht besonders freundlich, aber er gab ihr geduldig A nweisungen, wie sie die vielen Gurte anzulegen und zu befestigen hatte und prüfte am Ende noch einmal deren Sitz. Dann nickte er zufrieden und gab dem anderen Reiter ein Zeichen, dass alles bereit war. Nachdem Rik gleichermaßen festgezurrt und sicher im Sattel des Drachenmännchens saß, hob Salvias die Pfeife an die Lippen und gab der schwarzblauen Echse das Zeichen zum Start.
6
J emina hatte noch nie während eines Sturms in einer Baumkrone gesessen. Bei Unwetter hielt sie sich am liebsten im Schutz eines festen Hauses auf und wartete dort, bis die Gefahr vorüber war. Der W ind, den die Schwingen des Drachen erzeugten, war nicht mit einem gewöhnlichen Sturm zu vergleichen; dennoch erschien ihr der V ergleich passend.
Mit dem ersten Flügelschlag ging ein gewaltiger Ruck durch den Körper des Drachen. T rotz des Sattels glaubte Jemina zu spüren, wie sich jeder Muskel unter dem dicken Schuppenpanzer spannte, während das T ier versuchte, sich aus dem Stand in die Luft zu erheben. Ein mächtiges Rauschen begleitete das A uf und A b der Schwingen. Jemina schloss die A ugen, umfasste instinktiv den Körper des vor ihr sitzenden Reiters und klammerte sich schutzsuchend an seinen Rücken.
Ein Flügelschlag … zwei … drei … vier …
In Gedanken zählte sie mit, immer darauf gefasst, dass der Drache jeden Moment abheben würde. Beim fünften Flügelschlag stieß er sich mit einem kraftvollen Satz vom Boden ab. Doch statt sofort an Höhe zu gewinnen, bedurfte es noch zwei weiterer V ersuche, ehe der Landeplatz endlich unter ihnen zurückblieb. Und auch dann wurde es nicht viel besser. Das ständige A uf und A b belastete Jeminas Magen. Sie musste all ihre verbleibenden Kräfte zusammennehmen, um die Reste der üppigen Morgenmahlzeit bei sich zu behalten. Mit geschlossenen A ugen, die Lippen fest aufeinandergepresst, klammerte sie sich so fest an Salvias, dass dieser vermutlich A temnot bekam. A ber das war ihr in diesem Moment gleichgültig. Sie hatte A ngst.
Corneus beschattete die A ugen mit der Hand, während er beobachtete, wie die Drachen langsam seinen Blicken entschwanden.
»Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht.« Ulves, der neben ihm stand, seufzte.
»Mir auch nicht, mein Freund.« Corneus senkte die Hand und drehte sich um. Er konnte die Drachen nicht mehr sehen. »Aber haben wir eine W ahl?«
»Nein.« Ulves schüttelte den Kopf. »Ich habe alle Möglichkeiten erwogen. Das Mädchen zur Hohen Feste zu schicken, um nach dem Buch zu suchen, ist der einzige W eg, unsere Pläne zu verschleiern. W enn sie scheitert, wird der Rat anerkennen müssen, dass wir alle erdenklichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Das wird es ihnen leichter machen, dein Hilfsangebot anzunehmen.« Er grinste verschwörerisch. »Und wenn sie erfolgreich ist, umso besser. Dann werden wir das Buch des Lebens bald unser Eigen nennen …«
»… und über Selketien herrschen.« Corneus zwinkerte Ulves zu. »Salvias weiß, was zu tun ist. W enn alles gut geht, wird er ohne die beiden Bälger zurückkehren. Er wird mir das Buch übergeben und uns allen die bedauerliche Nachricht vom Scheitern der Mission bringen.«
»Ein wahrlich tragisches Ende aller Hoffnungen.« Ulves seufzte in gespieltem Bedauern. »Und dann?«
»Dann, mein Freund, werde ich Selketien auf meine W eise
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